Der Herr Der Drachen: Roman
sanft, so wie er dich getragen hat. Hilf ihm, Schatten zu finden.«
Tallis nickte, fühlte sich jedoch außerstande zu antworten. Jared drehte sich um und bahnte sich seinen Weg durch die Versammelten, bis er in der ersten Reihe hinter Mailun Platz nahm. Tallis sah ihm hinterher, fühlte sich aber seltsam unbeteiligt am Geschehen. Er war allein. Niemand würde ihn anschauen. Er war der Sohn des Toten, verpflichtet, Kaa eine Seele zu überbringen. Aber das war nicht der einzige Grund. Man raunte sich bereits zu, was er getan hatte.
Einen Augenblick lang konnte er sich nicht bewegen. Seine Brust war eng. Er war ein Gräuel und verachtenswert. Sein Vater war tot, während er, ein Scheusal, lebte. Doch er würde seinen Vater ehrenvoll an Kaa übergeben. Er zwang sich, sich umzudrehen und selbst durch die frei gelassene Gasse zu schreiten, durch die schwarze Öffnung in die kleineren, dahinterliegenden Höhlen, wo der Leichnam seines Vaters auf ihn wartete.
Er näherte sich ihm, ohne zu sprechen. Man hatte Haldane auf eine steife Lederbahn gelegt, die an zwei Holzstangen befestigt war. Tallis nickte den drei Männern zu, die ausgewählt worden waren, gemeinsam mit ihm den toten Körper zu tragen. Halif, Fen und Rawiri: Söhne von Miam aus dem Kreis der Führer. Er hatte als Kind mit ihnen gespielt, und sie füllten nun den Platz auf, den seine Familie hätte einnehmen sollen, wenn es denn noch irgendwelche Überlebenden gegeben hätte. Haldane war der Letzte seiner Linie. Die Gesichter der drei jungen Männer waren schwarz bemalt und schweißglänzend, und sie beobachteten ihn, als er vor seinem Vater stehen blieb. Draußen verstummten die Trommeln.
»Es ist an der Zeit.« Rawiri, der Älteste, schob Tallis zum vorderen Ende des linken Holms.
Tallis zog sein Hemd aus und nahm seine Position ein. Anders als die anderen würde er sich sein Gesicht nicht schwärzen. Während die Farbe die übrigen Männer verbarg, würde er seinen Vater unmaskiert zu Kaa schicken, bar jeder Verhüllung. Gleichzeitig hoben die vier Männer die Bahre auf die Schultern und trugen ihre Bürde langsam hinaus. Die Trommeln setzten wieder ein, als sie ins Licht traten. Tallis spürte, wie ihm das Holz in die Schulter schnitt und ihm der Schweiß den Rücken hinablief. Der Schmerz war ihm willkommen; er lenkte ihn ab von dem quälenden Gefühl, von den anderen abgeschnitten zu sein - ein Gefühl, das ihn bislang fest im Griff gehabt hatte.
Langsam bewegten sie sich an den Versammelten vorbei und blieben schließlich neben Tallis’ Mutter am Eingang zur Großen Höhle stehen. Mailun kniete reglos im Sand. Karnit und zwei Mitglieder des Kreises, Miram und Nevan, standen in einer Reihe draußen und erwarteten sie.
Zwei hüfthohe Felsquader waren zwischen Tallis’ Mutter und den Mitgliedern des Kreises aufgestellt worden. Karnit machte eine Geste in Richtung der Steine, und Tallis und die anderen Männer setzten sich in Bewegung und senkten vorsichtig die Bahre, um sie auf dem Steinsockel abzusetzen. Nachdem Tallis sich wieder aufgerichtet hatte, sah er auf das blasse, leblose Gesicht seines Vaters hinab. Man hatte ihm die Augen geschlossen, und seine Haare neu in viele, dünne Zöpfe geflochten, deren Enden mit rotem Wachs versiegelt worden waren. Ein dünner Strich von blauer Farbe lief von seiner Stirn hinab bis zum Kinn.
Tallis war kalt, und er konnte kaum den Sand unter seinen Füßen spüren. Rawiris Hand schloss sich um seinen Unterarm, und Tallis ließ sich wegführen, um neben seiner Mutter zu knien. Die anderen Männer traten zurück und knieten hinter ihnen.
Von Karnit angeführt, griffen sich die Mitglieder des Kreises der Führer je einen ausgehöhlten Flaschenkürbis und näherten sich dem Leichnam von Tallis’ Vater. Einer nach dem anderen leerte
den Inhalt des Behältnisses über Haldane und rezitierte die uralten Worte, während sie sich um den Toten herumbewegten. Der farbige Sand wehte von den bauchigen Gefäßen hinab wie ein feiner Schleier. Nach und nach stimmten die Versammelten hinter ihnen in den leisen Gesang ein, bis ein Summen die Höhle erfüllte wie ein Sandsturm. Mit einem Mal brach aller Klang ab.
Mailun ließ die Hände in den Sand neben ihren Knien sinken, legte den Kopf zurück und stieß einen wortlosen Schrei aus. Tallis senkte den Kopf und schloss die Augen. Der Schrei wurde von anderen Frauen aufgegriffen, die ihre Ehemänner oder Söhne verloren hatten; sie vereinten ihre Trauer mit der von
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