Der Herr Der Drachen: Roman
um zu trauern, und da traf ich Haldane.« Sie holte zitternd Atem, senkte den Blick auf ihre Hände, hob ihn dann wieder zu Tallis, und in ihren Augen lag ein flehender Ausdruck. »Das ist alles, was du wissen musst. Haldane war dein wirklicher Vater, der Mann, der dich geliebt und dich großgezogen hat. Ich erzähle dir alles nur deshalb jetzt, weil …«
»Weil es jetzt keine Rolle mehr spielt«, unterbrach er sie rau. »Er ist fort, tot, und zwar meinetwegen, und sie werden mich ausstoßen. Aber was zählt das schon? Ich stamme nicht vom Jalwalah-Clan ab, nicht richtig jedenfalls. Ich bin wie du. Man hat mich aus Mitleid im Clan aufgenommen.« Der Gedanke quälte ihn. Wie viele andere wussten davon, dass er kein Jalwalahstämmiger war? Wusste der Kreis davon? Würde es ihnen deshalb leichter fallen?
»Sohn.« Mailun legte ihm die Hand auf den Arm, aber er schüttelte sie ab.
»Tallis.« Eine weiche Stimme rief nach ihm, und als sie sich beide umdrehten, sahen sie Shila, die Träumerin, auf sich zukommen.
Tallis fiel das Atmen schwer. Sie war hier, um ihn zum Kreis zu bringen. Langsam erhob er sich. Der Drang, einfach davonzulaufen, war jetzt beinahe überwältigend. Mailun stand ebenfalls auf und griff nach seiner Hand, aber er wollte es nicht zulassen, dass sie sie hielt.
Shila kam näher. Ihr Haar war wie bei allen Träumerinnen weißblond - ein Zeichen dafür, dass sie von den Führern berührt worden war - und schmiegte sich glatt wie ein Vorhang um ihre weichen Züge. Ihre Lippen waren voll, ihre Haut makellos. Sie war älter als er, älter als seine Mutter. Aber jeder würde glauben, sie sei noch immer eine junge Frau, wären da nicht ihre Augen gewesen. Als sie vor Tallis stehen blieb, kam dieser sich wie ein Riese vor.
»Tallis.« Ihre Stimme war sanft, und als er ihr in die grauen Augen schaute, überfiel ihn ein Gefühl, als verflüchtige sich die ganze Welt um ihn herum.
»Der Kreis ist jetzt bereit, dich zu empfangen.«
Seine Mutter neben ihm versteifte sich und versuchte noch einmal, ihn zu berühren, aber er zuckte zurück.
»Ich werde hierbleiben, bis du zurückkommst, mein Sohn«, sagte sie, doch er konnte sie nicht ansehen.
»Komm, Tallis.« Shila streckte einen Arm in Richtung Höhle aus. »Sie warten auf dich.«
Sein Mund wurde trocken, und er folgte der Träumerin in die Höhle.
11
E r stand am Fuße der Treppe. Der Versammlungsort des Kreises der Führer war eine kleine, runde Höhle tief im Felsen des Jalwalah-Brunnens. Warmer Dampf stieg von den weiter hinten gelegenen heißen Quellen auf, und die Öllampen, die an den Wänden hingen, spendeten ein grünliches Licht.
Die sechs noch verbliebenen Mitglieder des Kreises saßen auf gepolsterten Stühlen um einen niedrigen Stein in der Mitte, und auf ihren Gesichtern glänzte der Schweiß. Der Stuhl neben Nevan war leer: Dies war Haldanes Platz gewesen. Tallis schnürte es die Kehle zu, als sein Blick darauf fiel, und er zwang sich, stattdessen die Träumerin zu beobachten, wie sie ihren Platz rechts von Karnit einnahm und damit neben ihrem Herzensgefährten Thadin saß. Auf dem geschorenen Kopf des Kriegers spiegelte sich das trübe Licht, und als Tallis seinen Blick suchte, erwiderte er diesen unverwandt, bis Tallis wieder wegschaute. Wie alle Clansmänner ging Thadin auf die Jagd, aber er war auch der Anführer der Krieger und hatte sie siegreich durch viele Schlachten mit anderen Clans geführt. Er hatte Haldane nie sonderlich gut leiden können und Tallis ebenso wenig.
Die anderen Mitglieder des Kreises, Miram, Nevan und Crull, sahen ihm unbeeindruckt entgegen.
»Setz dich!« Karnit deutete auf den Stein in ihrer Mitte. Ohne ein Wort zu verlieren, tat Tallis, wie ihm geheißen worden war. Sein Herz pochte laut, als er sich den anderen zuwandte. Er spürte die dunklen Augen der Jägerin Miram auf sich. Sie war eine große, kräftige Frau, und er hatte sie immer für gerecht gehalten, sodass er hoffte, sie würde heute Nacht mit dem Herzen über ihn richten.
Als er sich niedergelassen hatte, stand sie auf, um zu sprechen. »Wir sind hier, um ein Urteil über Tallis zu fällen, Sohn unseres Clans, Blut unseres Blutes.«
Ihre Stimme war tief und klar, und bei ihren Worten drehte sich ihm der Magen um. Er war nicht von ihrem Blut, jetzt nicht und auch in Zukunft nicht.
»Er hat uralte Worte gesprochen, und man wirft ihm vor, er habe sich mit den Drachen verständigt - eine Tat, die gegen das Gesetz verstößt, wie es vor
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