Der Herr Der Drachen: Roman
Untergehakt liefen sie dicht nebeneinander.
»Wie konnte das passieren?«, flüsterte Tuon, und ihre Augen huschten hin und her. »Ich habe nicht einmal gesehen, dass du ein Messer dabeihast.«
»Hatte ich auch nicht!«, antwortete Shaan leise. »Hatte ich nicht. Ich habe ihn nicht getötet, Tuon. Ich habe geschlafen.« Sie starrte ihre Freundin verzweifelt an. »Du musst mir glauben.«
Tuon sah sie an, als suche sie nach Antworten, dann nickte sie, und ihr Gesicht war angespannt. »Ich glaube dir. Auch wenn ich nicht weiß, wie es geschehen konnte, wenn du es nicht warst. Es war niemand sonst da.«
»Ich habe geträumt«, sagte Shaan, und sie wusste schon, als sie die Worte aussprach, wie lächerlich sie klangen.
»Du hast geträumt?«
»Ich bin eingeschlafen. Ich kam nicht dagegen an, weil ich so müde war. Und dann war Petar dort in meinen Träumen.«
»Du hast ihn in deinen Träumen gesehen?« Tuons Hand schloss sich um ihren Arm.
»Ja, und … Irgendetwas hielt ihn fest, und dann war da ein Messer an seiner Kehle. Er schrie mich an, ich solle aufwachen, und das habe ich auch versucht, aber es ging nicht. Also habe ich meine Hand ins Feuer gehalten …« Sie brach ab und fühlte den Schmerz auf ihrer Handfläche pochen.
»Willst du sagen, dass irgendetwas in deinem Traum Petar getötet hat?«
»Ich weiß nicht.« Sie sah zu Boden. Ihr Kopf schmerzte so sehr, dass sie kaum nachdenken konnte. »Das ergibt keinen Sinn.«
»Wie sah dieses Ding aus?«
»Es war groß und stark, und es hatte einen blauen Kamm wie aus Drachenhaut, der vom Hals ab über den Rücken lief.«
Tuon blieb stehen und sah sie entsetzt an. »Drachenhaut?«, flüsterte sie.
Shaan nickte.
»Aber das ist …« Sie brach ab und starrte über Shaans Schulter hinweg. Ihre Finger gruben sich in ihren Arm. »Da ist ein Verführer«, sagte sie leise.
Shaans Herz machte einen Satz, und ihr Mund wurde trocken. Es würde kein Verstecken geben, wenn er wegen des Todes des Sehers hier war.
»Sieh nicht hin. Komm.« Tuon schob sie in die nächste Seitenstraße. Sie bogen in eine schmale Gasse ein und machten sich auf den Weg zurück zum Wasser und zum Hafen. Shaans Herz hämmerte, und Schweiß strömte ihr über den Rücken.
»Wir müssen eine Salbe besorgen«, sagte Tuon. »Hast du heute Dienst in der Anlage?«
»Ich bin dafür eingeteilt, das Mittagessen auszugeben.«
Tuons Mund verzog sich. »Nun, mit deiner Hand wirst du heute gar nichts austeilen.«
»Aber was ist mit dem Aufseher?«
»Ich werde jemanden schicken, der ihm mitteilt, dass du dich in der Küche des Gasthauses verbrannt hast. Ich kenne da eine Frau, die in der Nähe wohnt, die deine Hand versorgen soll. Du kannst dich ausruhen, während ich mich um Torgs Nachschub kümmere. Komm.« Sie schob eine Hand unter Shaans Arm und zog sie in eine andere Seitenstraße.
20
M arathin erwartete sie am nächsten Morgen, als sie den Hof betraten, und blieb ruhig und gelassen wie früher, als Tallis in den Sattel stieg. Wieder spürte Tallis das Dröhnen in seinem Blut, aber dieses Mal versuchte er nicht, mit dem Drachen eine Verbindung aufzunehmen.
Er schloss die Augen und spürte einen Schwall salziger, kalter Luft auf seinem Gesicht, als sie in die Luft aufstiegen. Es war ein klarer Tag, die Sonne brannte heiß hernieder, aber am Horizont verdunkelte ein langes, tief hängendes Wolkenband den Rand der Welt.
Sie flogen an der Küste entlang; die blaue See sprühte weiße Gischt, wo sie auf das Ufer stieß, und Tallis besah sich das Schauspiel voller Staunen. So viel Wasser. Das dunkle Blau verblasste zu Azur und wurde dann ein helles Grün, und an einigen Stellen war es so durchscheinend, dass er den Sand darunter erkennen konnte. Das Spiel des Sonnenlichts auf den Wellen zauberte Lichtblitze hervor, wenn das Wasser heranrauschte und sich an den Felsen brach. Es war überwältigend. Die Stunden vergingen, und noch immer starrte er hinab, eingelullt vom hypnotischen Rhythmus der Flügelschläge des Drachen.
Attar hatte gesagt, es würde nur noch weniger als einen Tag dauern, bis sie die Stadt Salmut erreichten, und am späten Nachmittag erhaschte Tallis einen ersten Blick darauf. Er riss sich vom Anblick des Wassers los und sah der Stadt entgegen, deren Größe ihm einen Schock versetzte. Er hatte geglaubt, schon die Stadt Shalnor sei beachtlich gewesen, doch sie erreichte nicht einmal ein Viertel der Größe von Salmut. Salmut breitete sich entlang der Kurve einer großen Bucht
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