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Der Herr der Finsternis

Der Herr der Finsternis

Titel: Der Herr der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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auf dem Treppengeländer und schaute uns zu. »Stell dir Flügel vor! Stell dir vor, du fliegst! Du schaffst das.«
    »Ich schaff das nicht, Len.«
    »Quatsch, das schaffen alle. Du bist nicht schwer, die Flügel tragen dich.«
    Nach einer Stunde hatte Len eingesehen, dass wir auf diese Weise nicht weiterkamen. Daraufhin verlangte er, ich solle mich auf den zwei Meter hohen Schrank stellen und von dort herunterspringen. Das half.
    Auf einmal kam es mir vor, als würden meine Arme enorm wachsen und breit werden und auf etwas einschlagen – und zwar nicht auf Luft, sondern auf Wasser. Mein Fall wurde plötzlich abgebremst, und der Boden rückte wieder tiefer nach unten, weil ich hoch zur Decke getr a gen wurde. Durch das Zimmer strich Wind, der die Bilder an der Wand schwanken ließ und allerlei Kleinkram wegfegte.
    »Schon besser«, urteilte Len, der unter mir stand und mich kritisch im Auge behielt. »Die Flügel sind sowieso schlauer als du.«
    »Ich fliege!«, schrie ich, als ich begriff, dass ich nicht mehr fiel.
    »Du fliegst nicht, sondern du flatterst«, sagte der Kater spöttisch.
    »Hör nicht auf ihn!«, rief Len. »Die Flügel wissen, wie sie fliegen müssen, du musst nur steuern. Sie brauchen deinen Verstand und ein bisschen von deiner Kraft. Lande jetzt, S e nior!«
    Ich legte die Flügel an und landete sanft auf dem Boden. Trotz des heftigen Schmerzes in meinen Schultern war ich absolut begeistert.
    »Und wie macht man aus den Flügeln ein Zelt?«
    »Einen Unterstand«, korrigierte mich Len. »Also, dazu musst du die Augen schließen, die Arme ausbreiten und die Finger spreizen. Stell dir vor, der Overall würde sich aufblähen.«
    Das gelang mir auf Anhieb. Ich schlug die Augen auf, um mich zu überzeugen, dass ich in einem kleinen, kuppelförmigen Zelt stand, der von weißem Licht erfüllt war. Meine Schultern bedeckten feine rote Pusteln, doch der Schmerz ließ sofort nach.
    »Darf ich rein?« Len steckte den Kopf durch die Öffnung, zwischen seinen Beinen zwängte sich der Kater durch.
    »Klar.«
    »Ich musste fragen«, erklärte mir Len. »Bei einem Unterstand ist das noch wichtiger als bei einem Haus. Hier kommt man nicht einfach so rein.«
    Wir setzten uns und schauten uns an. Len und ich grinsten, der Kater machte eine nachdenkliche Miene.
    »Haben wir noch genug Zeit, um zu diesem Alten zu gehen, bevor ihr auf Patrouille fliegt?«, wollte er wissen.
    »Zu dem, der sich noch an die Sonne erinnert? Kaum. Wir müssen jetzt tüchtig essen, dann noch etwas üben und schließlich noch mal tüchtig essen.«
    »Sag mal, warum hab ich eigentlich ständig Hunger?«, fragte ich, als mir klar wurde, dass mir Lens Worte überhaupt nicht komisch vork a men. »Als ob ich den ganzen Tag noch nichts gegessen hätte.«
    »Du hast deine Kräfte an die Flügel abgegeben. Und zwar nicht nur für die Übungen eben, sondern auch schon auf Vorrat. Wir müssen viel essen, Danka.«
    »Aber das sieht man dir überhaupt nicht an!«
    »Das verliert man beim Fliegen wieder, Senior. Wenn wir doch bloß draußen trainieren könnten! Aber das geht ja nicht. Also los, flieg noch mal.«
    Wir übten weiter und unterbrachen das Training nur ab und zu, um etwas zu essen. Ich fuhr mir Wurstbrote, Spiegeleier und Schokowa f feln ein, trank Milch und Tee. Wo das alles blieb, war mir schleie r haft. Nach einer Stunde hatte ich nämlich wieder einen Wahnsinn s hunger.
    »Wie lange fliegen wir auf Patrouille?«, fragte ich Len, während ich durch die Luft eierte. Inzwischen konnte ich schon ein wenig lenken. Dabei kam es vor allem darauf an, auf die Flügel zu vertrauen, den Rest machten sie dann von allein.
    »Fünf, sechs Stunden.«
    »Das halte ich nicht durch!« Sofort bekam ich Angst.
    »Wir nehmen Essen mit. Außerdem verbrauchst du beim Üben hier im Zimmer ständig Kraft, während wir uns draußen zwischendurch von der Luft tragen lassen und dabei neue Kraft schöpfen. Los, üb einfach noch ein bisschen!«
    Wir starteten die Patrouille vom Turm unseres Hauses aus. Ich hatte Angst, dass mir andere Senioren dabei zuschauten, denn natürlich b e hielt man den Himmel über der Stadt immer im Auge. Wir hofften jedoch darauf, dass mein Flug aus der Entfernung nicht allzu stümpe r haft wirkte.
    Von dem zehn Meter hohen Turm zu springen war kein Kinderspiel. Immer wieder ging ich an den Rand der Plattform, zu der Stelle, wo eine Lücke im Geländer war. Der Steinboden, der im Laufe der Jahre glatt geschliffen worden war, stellte sich

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