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Der Herr der Finsternis

Der Herr der Finsternis

Titel: Der Herr der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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als gefährlich rutschig he r aus. In den Straßen liefen ein paar Fußgänger, aber niemand achtete auf uns. Nur zwei kleine Kinder, ein Junge und ein Mädchen an der Hand einer älteren Dame, verdrehten hartnäckig den Kopf nach dem Turm und lauerten auf meinen Start. Wahrscheinlich würde ich sie enttäuschen.
    »Es wird Zeit, Senior«, drängelte Len. »Mach schon! Wir müssten längst in der Luft sein.«
    Ich tastete mich bis ganz an den Rand vor, blieb stehen und versuc h te, das Gleichgewicht zu halten.
    »Spring!«, zischte Len.
    Ich breitete die Arme aus und schloss die Augen. In dem Moment trafen die Flügel die Entscheidung für mich. Sie schlugen auf die Luft ein, die hart wie Beton war – und der Turm verschwand unter meinen Füßen. Ohne die Augen wieder aufzumachen, hörte ich, wie Lens Flügel über mir schlugen und der peitschende Wind mir um die Ohren pfiff.
    »Wir haben Flügel!«, schrie Len. Seine Stimme erkannte ich kaum wieder, so glücklich klang sie! »Lass sie machen, was sie wollen, dann fliegst du ganz von selbst! Wir haben Flügel!«
    Ich öffnete die Augen. Die Stadt lag tief unter mir, die Menschen in den Straßen konnte ich schon nicht mehr erkennen. Wir stiegen immer höher, bis hinauf zu den paar Schäfchenwolken. Über ihnen hing ein dunkler Schleier.
    »Len!«, brüllte ich. Mein Junior schoss durch die Luft, als ob ihn das überhaupt nicht anstrengte. Als er mich hörte, breitete er die Flügel aus und segelte neben mir.
    »Können wir über die Wolken steigen, Len?«
    Er verstand, worauf ich hinauswollte. »Nein, Danka, die Finsternis tötet uns. Nur die Freiflieger halten sie aus.«
    »Aber wenn wir über die Wolken gelangen würden? Ist da die So n ne?«
    »Das weiß ich nicht. Wir müssen jetzt Patrouille fliegen, Senior. Mir nach!«
    Wir ließen die Stadt hinter uns und erreichten die Gegend, wo wir patrouillieren sollten. Len eilte ständig voraus, kam dann wieder z u rück und weihte mich in diverse Geheimnisse ein, die für mich völlig wirr klangen. Ich hörte jedoch gar nicht hin, sondern genoss den Flug.
    Vielleicht ist es noch spannender, ohne jedes Hilfsmittel zu fliegen, so wie Peter Pan. Aber das gibt es eben nur im Märchen. Mir machte es jedenfalls auch mit den Flügeln Spaß. Vor allem, weil ich übe r haupt keine Höhenangst hatte und es sich anfühlte, als hätte ich schon immer fliegen können.
    Unsere Aufgabe war leicht: Wir mussten die Hügel im Norden der Stadt abfliegen und nach Freifliegern Ausschau halten. Falls wir auf einen einzelnen Feind stießen, sollten wir ihn angreifen. Doch entw e der hatten wir Glück oder Len hatte unsere Route so geschickt ausg e wählt, jedenfalls begegnete uns kein einziger Freiflieger. Im Grunde bedauerte ich das sogar, denn ich hätte mir zu gern mal einen durchs Visier näher angesehen.
    Ab und zu hielten wir in der Luft an – landen durften wir während eines Patrouillenfluges nicht – und aßen etwas. Bei solchen Gelege n heiten quetschte ich Len aus.
    »Was macht ihr eigentlich in euerm Club, Junior?«
    »Ganz bestimmt keinen Wein trinken«, stichelte Len. »Und prügeln tun wir uns auch nicht … Ansonsten machen wir alles Mögliche. Wir spielen Freiflieger … «
    »Wie geht das?«
    »Das ist ganz einfach. Wir sitzen alle an einem Tisch, so etwa zehn Leute, und teilen Karten aus. Jeder schaut sich seine Karten an. Es gibt zwei schwarze Karten, das sind die Freiflieger. Niemand weiß, wer eine schwarze Karte hat, nur diejenigen selbst. Dann schließen wir alle die Augen, damit imitieren wir die Nacht. Die beiden Freifli e ger machen die Augen aber wieder auf und wissen jetzt, dass sie z u sammengehören. Nur mit Blicken bestimmen sie ein Opfer. Anschli e ßend öffnen alle die Augen und versuchen herauszukriegen, wer von uns die Freiflieger sind, die wir umbringen müssen.«
    »Umbringen?«
    »Natürlich nicht in Wirklichkeit. Alle rätseln, wer am verdächtigsten wirkt und ein geheimer Freiflieger ist. Dann wird abgestimmt und jemand umgebracht. Zum Spaß. Danach kommt wieder die Nacht, alle machen die Augen zu, aber derjenige, den wir umgebracht haben, ist jetzt Spielleiter. Er hat die Augen offen und ruft nacheinander alle Namen auf. Sobald der Name des Opfers fällt, das die Freiflieger vo r hin ausgesucht haben, heben die beiden den Finger. Wenn sie sich vorher richtig verstanden haben und den Finger gleichzeitig heben, heißt es, der Junge ist tot. Dann öffnen alle die Augen, und der Spie l leiter sagt, in

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