Der Herr der Finsternis
glaube, Len war sehr zufrieden mit mir, denn sein Senior hatte eine schöne Attacke geflogen.
Ich wollte angreifen – und erstarrte: Vor mir schwebte ein Mensch wie du und ich in der Luft, von den ausgebreiteten Flügeln mal abg e sehen. Der Junge war schon älter und erinnerte mich irgendwie an Shoky, nur dass sein Gesicht nicht von einem durchsichtigen Visier geschützt war wie bei den Flügelträgern. Offen blickte er mir in die Augen – selbst in dieser ewigen Nacht konnte er etwas erkennen!
»Töte mich nicht«, krächzte er. »Töte mich nicht … «
Ich rührte mich nicht. Zum Glück hielten mich die Flügel in der Luft. Mein Schwert hatte ich immer noch auf den Freiflieger gerichtet. Er selbst trug kein Schwert, vermutlich hatte er es beim Kampf verl o ren.
»Lass mich fliegen«, keuchte der Freiflieger, dessen Stimme im Pfeifen des Windes fast unterging. Wir waren tausend Meter über den Bergen. Ich stellte mir vor, dass ich auf die schwarzen Flügel ei n schlug und er abstürzte …
»Lass mich fliegen«, wiederholte der Freiflieger. Die beiden anderen Flügelträger, die seinen Partner getötet hatten, kamen immer näher.
»Schlag zu!«, brüllte Len von oben. »Schlag zu, Danka!«
»Los, hau ab!«, zischte ich und senkte das Schwert. Die Verblüffung im Gesicht des Freifliegers entging mir nicht. Es war das Gesicht e i nes ganz normalen Menschen, allerdings leicht verzerrt, als ob ihn etwas quälte.
»Flieg mit mir!«, flüsterte er. »Komm mit, du bist einer von uns!«
»Nein«, brüllte ich. »Verpiss dich!«
»Du wirst schon noch kommen!«, stieß der Freiflieger hervor und schoss nach unten. Im Sturzflug gewann er an Tempo, irgendwann breitete er die schwarzen Flügel aus und glitt über die Berge davon.
»Das darf nicht wahr sein!«, schrie Len, als er mit mir auf einer H ö he war. »Was hast du dir bloß dabei gedacht, Senior?«
»Aber er ist doch ein Mensch!«
»Er kommt aus der Finsternis! Er ist ein Diener der Finsternis!«
»Er ist genau wie du und ich! Er ist ein Mensch!«
»Das kostet uns beide den Kopf«, sagte Len mit schwacher Stimme. »Danka … «
Über sein Gesicht liefen Tränen. Sofort dachte ich wieder logisch. Konnte ein Diener der Finsternis etwa nicht wie ein Mensch auss e hen? Eben!
»Ich hab ’ s genau gesehen!«, schrie jetzt einer der beiden Flügeltr ä ger aus dem anderen Team. »Du hast ihn entkommen lassen! Du bist ein Verräter!«
Es war der Junge, der genauso alt war wie Len und ich. Sein Senior, der schon schwerer und langsamer war, blieb hinter ihm zurück.
»Ich kann das erklären!«, schrie ich. Aber niemand hörte mir zu. Jetzt erreichte uns auch der Senior. Es war der Junge, mit dem ich mich gestern Abend geprügelt hatte. Das erstaunte mich nicht im G e ringsten. Schließlich kommt ein Unglück selten allein.
»Spielst du mit dem Gedanken, abzuhauen?«, fragte er. In der Hand hielt er eine Armbrust.
»Bestimmt nicht!«, antwortete ich, wobei ich versuchte, mir meine Angst nicht anmerken zu lassen. »Ich kann das alles erklären.«
»Da bin ich aber gespannt! Cheky, flieg in die Stadt! Es sollen alle zum Platz kommen und sich am Galgen versammeln!«
Cheky glaubte anscheinend felsenfest daran, dass sein Senior mich und Len in die Tasche stecken konnte, und flog los in die Stadt.
»Und jetzt setzt euch in Bewegung!«, kommandierte mein Feind. »Beide! Und du, Len, wirst dich gesondert zu verantworten haben.«
Wir kehrten zur Stadt zurück. Unterwegs flog Len zu mir heran. »Ich werde versuchen, ihm die Armbrust zu entreißen«, flüsterte er. »Ich bin schnell, ich schaff das. Dann fliehen wir.«
»Wohin denn?«, entgegnete ich nur. »Keine Angst, uns passiert schon nichts.«
»Bist du sicher?«, fragte Len mit leiser Hoffnung.
»Nur Mut, Junior!«
Ich hatte vor, ihnen die Wahrheit zu sagen. Dass ich aus einer and e ren Welt kam, wie ich Len getroffen hatte und wie ich den Freiflieger angegriffen hatte und völlig verstört gewesen war, als ich gesehen hatte, dass er ein Mensch war wie wir selbst.
Erst als wir über der Stadt bereits zum Landeanflug ansetzten, be g riff ich: All das durfte ich auf gar keinen Fall sagen. Unter keinen Umständen. Mir würden sie vielleicht noch verzeihen. Aber Len, der mein Geheimnis vor ihnen verborgen hatte, würden sie töten.
In diesem Moment wollte ich nur noch abhauen. Inzwischen hatte uns jedoch ein Dutzend Flügelträger eingekreist, sodass es idiotisch gewesen wäre, zu fliehen – noch dazu
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