Der Herr der Finsternis
Wir machen kleine Löcher rein und … «
»Das wird nicht nötig sein«, unterbrach ich ihn, während ich das Band am Hinterkopf verknotete. »Das ist ja bloß Stoff. Vielen Dank, Gert. Vielen Dank, Keja, der Kuchen war echt lecker!«
Dann gingen wir zu uns nach Hause. Den Kater trug ich auf dem Arm, und Len führte mich am Oberarm, als wäre ich immer noch blind. Da viele Menschen unterwegs waren, konnte es noch nicht sehr spät sein. Ich betrachtete die Gesichter derjenigen, die uns entgege n kamen. Von den Senioren lächelte uns manchmal einer an. Na ja, oft kam das nicht vor. Aber ein paarmal eben doch.
7 Die Karawane
S hoky besuchte uns erst drei Tage später, bevor Len und ich den zweiten Patrouillenflug antraten. Diese Tage als aufregend zu b e zeichnen wäre eine ziemliche Untertreibung. Ich las Unmengen B ü cher, daru n ter auch einige superspannende, jeden Tag trainierten wir das Fliegen, ich brachte Len ein paar Aikido-Tricks bei und sah mir die Bilder an, die Lens Ex-Senior Kurt gemalt hatte.
All das war mit meinem neuen Blick absolut spannend. Ich konnte zum Beispiel zehnmal schneller lesen und wusste oft schon nach den ersten paar Seiten, wie ein Buch endete. Solche Bücher las ich gar nicht erst weiter. Und während ich Len Aikido beibrachte, erkannte ich alle seine Fehler so klar, dass es total einfach war, ihn zu verbe s sern.
Die Krönung waren aber die Bilder. Ich sah nämlich die Wahren Bilder, und das war, als seien sie offene Fenster in der Wand und nicht bloß bemalte Leinwand. Kurt konnte toll malen, war aber meiner Meinung nach kein sehr guter Mensch. Es gab da zum Beispiel ein ganz rätselhaftes Bild, das Vor dem Kampf hieß. Über einem schwa r zen, reglosen Meer und unter einer grauen Wolkendecke flogen Fre i flieger und Flügelträger jeweils in einer Reihe. Am Horizont ve r schmolzen sie zu einer einzigen Kette, die ins Unendliche hineinflog. Obwohl das Bild Vor dem Kampf hieß, war mir klar, dass keine Schlacht stattfinden würde.
Auf einem anderen Bild stürzte ein getöteter Freiflieger über den Bergen ab. Über ihm schwebte ein Flügelträger, der, wenn ich Len glauben durfte, an Kurt erinnerte. Dieses Bild hieß Der Sieger. Der Freiflieger wirkte selbst im Tod stolz und schön. Dagegen war der Flügelträger recht ungelenk gemalt, als habe sich der Künstler g e schämt, ihn überhaupt darzustellen.
Es gab noch ein anderes Bild, das mir richtig gut gefiel, das Len aber gar nicht mochte. Das Bild zeigte nämlich Len selbst, der im Schne i dersitz in einem Sessel saß und mit gesenktem Kopf zur Seite schielte. Dort waren mit hellen, schönen Farben ein Mann und eine Frau g e malt, die mit einem Glas Wein anstießen. Als Len das Bild betracht e te, erklärte er mit wütender Miene, Kurt habe ständig die Freundinnen gewechselt, aber ihm, Len, habe das überhaupt nichts ausgemacht, weshalb es dumm sei, das Bild Eifersucht zu nennen.
Die ganze Zeit über wollte ich Len fragen, wie Kurt eigentlich g e fangen genommen worden war, denn inzwischen hatte ich ja einiges über ihn gehört und machte mir so meine Gedanken. Doch vorläufig vertagte ich dieses Gespräch noch.
Unser zweiter Patrouillenflug war für den Abend angesetzt. Seit dem frühen Morgen futterten wir auf Vorrat und flatterten hin und wieder durchs Zimmer, um die Flügel zu lockern.
Als ich Shoky durch die geschlossene Tür erspähte, suchte ich he k tisch nach meiner schwarzen Binde. Am Ende setzte ich mich aber bloß in einen Sessel und schloss die Augen. Len machte Shoky die Tür auf und stellte sich schweigend neben mich.
»Hallo«, begrüßte mich Shoky verlegen.
»Hallo. Wer ist da?«, fragte ich scheu, als wäre ich wirklich seit ein paar Tagen blind. Ich konnte mir diese kleine Rache nicht verkneifen. Währenddessen musterte ich Shoky durch meine fest zusammeng e pressten Lider. Er biss sich auf die Lippe und sah woanders hin.
»Ich bin ’ s: Shoky.«
»Weshalb bist du gekommen?«
»Also … eigentlich müsstet ihr ja heute Patrouille fliegen … beim Pfad der Karawane … «
»Das wissen wir, Senior Shoky«, sagte ich ungerührt. »Das geht in Ordnung.«
»Aber … wollt ihr denn wirklich losfliegen?« Die Verwunderung in seiner Stimme zu unterdrücken, das schaffte er. Es war sein Gesicht, das seine Verblüffung verriet.
»Selbstverständlich. Mir bleibt ja wohl keine andere Wahl, oder?«
Vermutlich hatte Shoky uns irgendeinen Vorschlag machen wollen, worauf er jetzt allerdings verzichtete. So
Weitere Kostenlose Bücher