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Der Herr der Finsternis

Der Herr der Finsternis

Titel: Der Herr der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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kann. Das hat einer von euch Menschen g e sagt. Und recht hat er. Wenn die Flügelträger glauben, sie stünden auf der Seite des Guten, auf der Seite des Lichts – dann zwinge sie, auch tatsächlich gut zu sein!«
    »Was soll der Quatsch! Wie kann man jemanden zwingen, gut zu sein?«
    »Ganz einfach: Lass nicht zu, dass sie sich lediglich als gut bezeic h nen! Bringe sie dazu, entsprechend zu handeln!«
    »Wie soll das gehen? Ich bin nur ein Junge … «
    »Ich möchte einmal einem Jungen begegnen, der vorbehaltlos zu dem Jungen in sich steht«, meinte der Kater mit einem traurigen L ä cheln.
    »Wir hätten den Wahren Spiegel nicht tauschen sollen«, erwiderte ich. »Jetzt würde ich gern mal hineinschauen.«
    »Für dich sind alle Spiegel Wahre Spiegel«, sagte der Kater und drehte sich um.
    Im ersten Moment begriff ich nicht, worauf er hinauswollte. Doch nach einer Weile stand ich auf und stellte mich vor den Spiegel neben der Tür.
    Ein ganz normaler Spiegel. Ein stinknormaler sogar. Ein verstaubtes Ding, das am Rand gesprungen war, mir aber dennoch ein tadelloses Spiegelbild zeigte. Das Gesicht eines gewöhnlichen Jungen, das schon fast so blass wie das der Flügelträger aussah. Meine Haare waren ze r zaust, über meine Wange lief eine feine Narbe. Eine uralte Narbe … Nur meine Augen leuchteten schwach, als würdest du durch die Schlitze einer Maske einen Sternenhimmel betrachten.
    Es war so einfach – aber ich hatte solche Angst davor … Genau wie beim Sprung vom Turm der Flügelträger setzte ich den Wahren Blick ein, diesmal allerdings, um in den Spiegel zu schauen. Ich konnte g e rade noch erkennen, wie in meinen Pupillen weiße Funken aufsprü h ten, bevor mein Spiegelbild zerfloss. Nun sah ich im Spiegel nur das Zimmer, den schlafenden Len und den Sonnenkater, der leise sagte: »Geduld, du siehst dich nicht auf Anhieb … Geduld!«
    Und als hätte der Spiegel seine Worte gehört, erschien mein Gesicht wieder. Mein Gesicht – das doch nicht meines war. Ich sah das G e sicht eines Erwachsenen. Derjenige, der mich da aus dem Spiegel he r aus anblickte, mochte zwanzig oder dreißig Jahre alt sein. Das war aber noch gar nicht das Schlimmste.
    Derjenige – da im Spiegel – lächelte. So freundlich, als hätte er la n ge auf diese Begegnung gewartet und als würde er sich riesig darüber freuen. Seine Miene wirkte ruhig und selbstsicher. Dieses Ich – das nicht ich war – wollte weg von zu Hause. Dieses Ich – das nicht ich war – hatte sich ohne große Skrupel an Iwon gerächt. Dieses Ich – das nicht ich war – hatte das Labyrinth durchwandert, denn es sorgte sich schon lange nicht mehr um seine Mutter, fürchtete sich nicht vor se i nem Vater und hatte nicht die geringste Absicht, für einen Freund zu sterben.
    »Warum?«, fragte ich, aber die Lippen meines Spiegelbilds bewe g ten sich nicht. Diese Frage interessierte ihn nicht – denn er kannte die Antwort.
    »Weil du so bist«, antwortete der Kater traurig. »Du bist dieser E r wachsene, der es hasst, ein Kind zu sein.«
    »Und du wusstest, dass ich so bin?«
    »Ja.«
    Ich schaute zum Kater hinüber, und als ich danach wieder in den Spiegel blickte, sah ich bloß einen Jungen.
    »Er ist rücksichtslos«, meinte ich einfach in den Raum hinein.
    »Selbstverständlich.«
    »Und böse.«
    »Das nun nicht gerade. Du bist rücksichtslos, wenn du etwas durc h setzen willst. Aber deine Ziele sind gut, Danka.«
    Schweigend ging ich zum Bett, zog mich aus und kroch unter die Decke. »Passiert so was oft, Kater?«, fragte ich.
    »Ein Fall wie deiner ist selten. Meist ist das Gegenteil zu beobachten – dass in einem Erwachsenen ein Kind steckt. Das ist schrecklich. Denn so jemand kann auf sehr sanfte und zärtliche Weise etwas Böses bewirken … Schlaf jetzt, Danka. Wir werden morgen unsere Entsche i dung treffen.«

7 Sonnenbräune
    L en weckte mich, indem er mich an der Schulter rüttelte. »Danka, das Frühstück wartet«, meinte er ein wenig verlegen. Ohne jeden Ü bergang fügte er dann hinzu: »Tut mir leid, dass ich gestern sauer auf dich war. Ich verstehe ja, wenn du dich nicht an das Labyrinth eri n nern willst … «
    »Ist doch längst vergessen«, beruhigte ich ihn. »Wo ist denn unser pelziger Freund?«
    »Den hat der Hunger schon nach unten getrieben«, antwortete Len munter.
    Der gestrige Tag existierte irgendwie nicht mehr in meinem G e dächtnis. Das Labyrinth kam mir nur noch wie ein Märchen vor, me i ne Ängste kindisch und irreal.

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