Der Herr der Habichts - Insel
Entsetzen, die furchtbaren Qualen begleiteten ihn ständig, fielen nachts über ihn her und ließen ihn das ganze Grauen immer wieder von neuem erleben. Es gab kein Entrinnen.
Er redete nicht mit ihr. Er haßte sie, weil sie Zeugin der furchtbaren Ereignisse war, die er hilflos wie ein Kind in der Erinnerung durchleben mußte. Er müßte ihr dankbar sein, daß sie ihn geweckt hatte, bevor der Alptraum zum blutigen Ende kam, doch auch dafür haßte er sie. Ein Ende, das er nicht erlebt hatte. Er war zu spät gekommen, zu spät, um die Tragödie abzuwenden. Ihm blieb nur, das grausige Ergebnis zu sehen und den beißenden Gestank des Todes zu riechen. Er war auf die Knie gefallen und hatte seinen Schmerz hinausgeschrien, seine Ohnmacht und sich selbst verflucht, nicht rechtzeitig dagewesen zu sein. Er stand auf und warf einen Kittel über den Kopf.
Er holte tief Luft. Seine Hände zitterten. Auch das haßte er.
»Geht es dir gut?«
»Ja«, sagte er schroff. »Schlaf weiter. Kümmere dich um deine eigenen Träume und laß mich zufrieden.«
Er verließ die Schlafkammer.
Mirana legte sich wieder auf den Boden und wickelte die Decke fester um ihre Schultern. Wer war Inga?
Am nächsten Morgen kam die Alta Alna und befreite sie von der Kette. Rorik war die ganze Nacht weggeblieben. Jetzt war heller Morgen. Sie reichte Mirana Kleid und Umhang, die sie tags zuvor gewaschen hatte.
»Es war ein guter Plan«, sagte die Alte Alna, »aber er ist mißlungen. Ich hatte vergeblich gehofft, er würde warten. Herr Rorik hält gerade seine Rede — weder er noch seine Männer haben von dem köstlichen Haferbrei und dem Fladenbrot probiert. Die Götter sind uns nicht wohl gesonnen.« Die Alte seufzte. »Komm. Hören wir uns an, was er sagt. Vielleicht fällt dir noch etwas ein.«
Sie ging in den langgestreckten Raum voraus, in dem die Menschen dichtgedrängt standen oder auf Bänken saßen. Keiner hatte etwas gegessen, Fluch dem Schicksal. Rorik hielt eine Rede mit fester Stimme, und sie hörte den tiefen Groll heraus. Er stand in der Mitte, die Hände in die Hüften gestemmt. Die Rolle des Herrschers stand ihm gut zu Gesicht. Haltung und Ausdruck waren entschlossen. Er wirkte ruhig und gelassen wie ein Priester und zugleich gewaltbereit, so seltsam die Mischung sein mochte.
». .. Ich habe genug davon. Ihr Frauen hört sofort auf, uns Männern böse Streiche zu spielen. Schluß damit. Ein für allemal. Wenn ihr uns noch eine einzige ungenießbare Mahlzeit vorsetzt, werde ich die Frau persönlich auspeitschen, die gekocht hat oder die dafür verantwortlich ist. Und jeder meiner Männer wird seine Frau auspeitschen. Nur Entti wird nicht bestraft. Sie trifft keine Schuld. Sie kann nun mal nicht kochen. Sie kann nichts dafür, daß ihr Frauen sie zwingt, immer wieder zu kochen. Und wahrscheinlich habt ihr der Bedauernswerten die bitteren Zutaten gereicht. Ich hoffe, ihr habt mich verstanden, denn ich spreche keine leeren Drohungen aus. Ihr gebt uns anständiges Essen, oder ihr werdet gnadenlos ausgepeitscht. Ich bin der Herr der Habichtsinsel, und ich habe gesprochen.«
Er machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum.
Mirana überlegte, ob die Anzahl der Männer der Anzahl der Frauen entsprach. Möglicherweise blieb einigen Frauen die Peitsche erspart. Wenn es aber mehr Männer gab, dann würden mehr ... sie weigerte sich, den Gedanken zu Ende zu denken.
Unter den Frauen erhob sich Protest. Schimpfend, jammernd, gestikulierend standen sie in Gruppen zusammen. Die Alte Alna hielt sich abseits, grinste und zeigte dabei ihre drei verbliebenen Zähne. Es war ein trauriges Grinsen.
Die meisten Männer lachten, höhnten und rieben sich die Hände.
Gurd, der Schmied johlte: »Asta, schaff deinen dicken Hintern hier rüber, Weib! Und zwar sofort, sonst peitsche ich dich auf der Stelle aus. Herr Rorik gibt seinen Segen dazu. Weh dem Weib, das sich seinen Befehlen widersetzt. Ihr habt ihn gehört, er ist der Herr der Habichtsinsel.«
Asta kreischte: »Eines Tages vermoderst du in den Salzsümpfen, du elender, treuloser Schuft!«
Gurd, der über einen mächtigen Brustkorb und gewaltige Oberarmmuskeln verfügte, stolzierte auf seine Frau zu, packte sie bei der Hand und riß sie zu sich herum. Dann nahm er ihr Kinn in seine rußgeschwärzte Hand und sagte mit lauter Stimme, daß alle es hören konnten: »Ich stoße Enttis Bauch oder den irgendeiner anderen Frau, wann immer mir danach zumute ist, und du hältst den Mund. Oder du
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