Der Herr der Habichts - Insel
alles wieder da, das ganze Grauen und die Alpträume.
Meine Eltern und mein Bruder haben die Schrecken in sich lebendig bewahrt und genährt. Sie wollten, daß auch ich vor dem Altar ihrer Trauer, ihres Hasses knie. Und du warst für sie das Böse, der Satan der Christen, eine geeignete Zielscheibe für ihren Zorn und ihren Haß. Dein Halbbruder ist für sie immer noch ein gesichtsloses Wesen, aber durch dich wurde ihr Schmerz greifbar, vermochten sie in seine Tiefen zu schauen.
Und Sira kam, um mich mit dem Segen meiner Eltern zu heiraten. Das wußte ich, und ich wußte immer, daß ich sie nie heiraten würde. Sie ist mir wie eine Schwester. Kann ich meine Schwester heiraten? Ich sah, wie sie dich musterte, wie sie sich veränderte, wie sie sich vor Eifersucht verzehrte, als sie feststellte, daß du meine Gemahlin bist. Ich wollte sie nie haben und habe ihr auch nie Hoffnungen gemacht. Sie ist sehr gefühlsbetont und leidenschaftlich. Ich werde sie Hafter zur Frau geben, wenn meine Eltern damit einverstanden sind. Er hat oft gesagt, er habe noch nie eine schönere Frau gesehen, und daß er sie gern haben würde. Er bekommt sie und kann mit ihr aufs Festland gehen. Er hat ein Gehöft und Verwandte in der Nähe von Edingthorpe. Dann ist Entti vor seinen Nachstellungen sicher, und Sira kann dich nicht länger quälen.«
Er schwieg. Mirana fühlte sich sehr unsicher. Ihre Angst war zu groß; sie durfte nicht von ihrem Entschluß weichen. In ihrem bisherigen Leben war ihr immer alles klar erschienen, ihr Weg schien deutlich vorgezeichnet. Sie hatte keine Halbwahrheiten oder Lügen gekannt, die ihre Welt oder gar sie selbst in Frage gestellt hätten. Doch seit kurzem wußte sie, daß ihr Leben angefüllt war mit Lügen, vor denen sie die Augen verschlossen hatte. Sie hatte ihr Leben auf Clontarf mit Einar akzeptiert, nachdem ihre Eltern nicht mehr lebten. Sie hatte ihn nicht als den erkannt, der er war, hatte nicht bemerkt, daß sie für ihn nur ein Köder war, den er benutzte, um Macht und Reichtum anzuhäufen. Ihr Mund war ausgetrocknet. Sie schluckte. Rorik schwieg und wartete geduldig. Schließlich sagte sie: »Du bist ein ehrenwerter Mann, Rorik Haraldsson. Aber ich hatte große Angst vor dir. Gestern in der Badehütte glaubte ich, du wolltest mich töten.«
»Ich weiß. Das tut mir leid. Ich war verwirrt — fast wahnsinnig. Mir wurde klar, daß ich zum Berserker werden könnte, aber ich hätte dich nicht getötet, Mirana, nie hätte ich dich getötet.
Ich hatte die Leidenschaft meines Bruders Merrik vergessen. Seine Treue ist ebenso fest, wie sein Haß tief wurzelt. Er ist ein furchterregender Feind und ein wertvoller Freund. Meine Eltern nährten seinen Haß, und das war nicht schwer, denn er ist noch sehr jung.«
Er ging in der Kammer auf und ab und wartete still und geduldig.
Sie prüfte seine Worte und suchte darin eine Bedeutung, die ihr Klarheit und Hoffnung bringen könnte. Doch sie enthielten nur die bittere Wahrheit — eine Wahrheit, die sich nicht ändern würde. Sie mußte sich ihr stellen und ihn dazu bringen, es gleichfalls zu tun. So schmerzhaft es war, sie mußte ihm das Ende klarmachen. Mit leiser Stimme sagte sie: »Ich bin erleichtert zu hören, daß du mich nicht töten willst. Aber, Rorik, deine Ehre darf dir nicht die Frau aufzwingen, die nicht zu dir paßt. Auch nicht dein Mitleid. Oder dein Gewissen. Und es waren Mitleid und Gewissensbisse, die du empfandest, als du erfuhrst, was Einar mit mir vorhatte. Das war der Grund, warum du mich geheiratet hast. Um mir Schutz zu geben, um mir ein Schicksal an der Seite des lüsternen alten Königs zu ersparen.
Du hast mich gepflegt, als ich krank war, und ich danke dir dafür. Doch deiner Familie schuldest du Treue und Zuneigung, nicht mir. Ich bin eine Fremde, eine Außenseiterin. Und sie haben recht, Rorik, Einars Blut fließt in mir. Du kannst nie sicher sein, ob etwas von seinem Wesen in mir schlummert. Du kannst mir nie so vertrauen wie du Merrik oder deinen Eltern vertraust.«
Er trat ans Bett und blickte auf sie hinunter. Ihr Haar war stumpf und glanzlos. Seine Mutter hatte es zu einem losen Zopf geflochten, der ihr über eine Schulter fiel. Tora war ganz natürlich, wie mit einem eigenen Kind, mit ihr umgegangen. Stark war sie, seine Mutter, oft zu stark und zu beherrschend. Er betrachtete die Kringel, die ihr bleiches Gesicht umspielten. Ihre grünen Augen, die sonst so geheimnisvoll blickten, waren jetzt matt und glanzlos wie ihr
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