Der Herr der Lüfte
vielleicht auf irgendeine Weise helfen… um Ihr Gedächtnis wieder anzuregen?«
»Sie könnten mir einen kurzen Abriß der Geschichte seit 1902 geben.« Ich dachte, ich hätte ihn sehr geschickt hierauf gelenkt.
Er hob die Schultern. »Eigentlich hat sich nicht viel getan. Siebzig Jahre eines ruhmreichen Friedens, alles in allem. Ziemlich langweilig.«
»Keinerlei Kriege?«
»Nichts, was den Namen Krieg verdienen würde, nein. Ich glaube, die letzte schwere Auseinandersetzung war der Burenkrieg.«
»In Südafrika?«
»Ja - im Jahre 1910. Die Buren versteiften sich auf ihre Unabhängigkeit. Schätze, waren dabei auch nicht ganz im Unrecht. Aber wir haben Sie wieder beruhigt, haben sechs Monate lang gekämpft und dann einen Haufen Zugeständnisse gemacht. Nach allem, was ich gelesen habe, muß es aber ein ziemlich blutiger Krieg gewesen sein.« Er zog eine Zigarette aus seiner Jackentasche. »Stört es Sie, wenn ich rauche?«
»Keineswegs.«
»Möchten Sie vielleicht auch eine?«
»Danke.« Ich nahm mir eine.
Er grinste schief, während er meine Zigarette mit einem Gegenstand anzündete, der wie eine zischende Zunderbüchse aussah - eine Art tragbarer Flammenwerfer, nahm ich an. Ich bemühte mich, das Ding nicht anzugaffen, während ich mich nach vorn beugte, um mir Feuer geben zu lassen. »Ich komme mir ein wenig wie ein Schulmeister vor«, sagte er, und steckte den tragbaren Flammenwerfer ein. »Ich meine, wenn ich Ihnen das alles so erzähle. Aber wenn es Ihnen etwas nützt…«
»Das tut es ganz bestimmt«, versicherte ich ihm. »Was ist denn mit den übrigen Großmächten - Frankreich, Italien, Rußland, Deutschland…«
»Und Japan«, fügte er fast widerwillig hinzu.
»Welche Schwierigkeiten hatten die denn mit ihren Kolonien?«
»Nichts von Bedeutung. Dabei hätten es einige durchaus verdient. Die Art und Weise, wie die Russen und Japaner ihre chinesischen Gebiete verwalten!« Er räusperte sich. »Ich kann nicht behaupten, daß ich ihre Methoden gutheiße. Wenngleich die Chinesen natürlich auch ein ziemlich unregierbarer Haufen sind.« Er tat einen tiefen Zug an seiner Zigarette. »Die Amerikaner sind ein bißchen lasch - insbesondere in ihren indochinesischen Kolonien, aber das ist mir immer noch lieber als das andere Vorgehen.«
»Die Amerikaner haben Kolonien?«
Er mußte über meine Frage lachen. »Klingt merkwürdig, nicht wahr? Kuba, Panama, Hawaii, die Philippinen, Vietnam, Korea, Taiwan - o ja, sie haben ein recht ansehnliches Imperium, da gibt es nichts zu sagen. Natürlich nennen Sie es nicht so. Das Größere Amerikanische Commenwealth. Seine Beziehungen zu Rußland und Frankreich waren einigemal ziemlich angespannt, aber gegenüber England ist man seinen Verpflichtungen bislang immer nachgekommen. Soll ruhig alles so weiterlaufen, würde ich sagen. Unsere Empire - und die Pax Britannica - werden sie meiner Ansicht nach letztlich alle überdauern.«
»Es gab da einige Leute«, warf ich vorsichtig ein, »in den Jahren um 1902, die das Britische Empire schon zusammenbrechen sahen …«
Major Powell lachte von Herzen. »Zusammenbrechen? Sie meinen Schwarzseher wie Rudyard Kipling, Lloyd George und solche Leute? Ich fürchte, Kipling genießt heute kein allzu großes Ansehen mehr. Er hatte zwar das Herz auf dem rechten Fleck, aber ich glaube, daß er in letzter Minute den Glauben verloren hat. Wäre er nicht in den Burenkriegen ums Leben gekommen, so hätte er schätzungsweise seine Ansicht noch geändert. Nein, ich glaube, man kann rechtens sagen, daß das alte Empire der Welt eine Stabilität beschert hat, wie sie sie zuvor niemals kannte. Das Kräftegleichgewicht wird sehr gut erhalten - und letztlich ist das nicht zum Schaden der Eingeborenen.«
»Katmandu hat sich jedenfalls gewaltig verändert seit dem Jahre 1902…«
Er warf mir wieder einen seiner merkwürdigen, argwöhnischen Blicke zu. »Wissen Sie, Bastable, wenn ich es nicht besser wüßte, könnte ich fast glauben, daß Sie tatsächlich siebzig Jahre lang auf diesem verdammten Berg waren. Es ist ganz merkwürdig, einen jungen Burschen wie Sie derartig über die Vergangenheit reden zu hören.«
»Es tut mir leid.«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Es ist ja nicht Ihre Schuld. Ich muß schon sagen, die Gehirnspezialisten werden Ihre Freude an Ihnen haben!«
Ich lächelte. »Was Sie so sagen, stimmt mich nicht gerade optimistisch.« Ich deutete zum Fenster. »Würden Sie so freundlich sein, die Jalousie
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