Der Herr der Lüfte
hochzuziehen?«
Er griff nach dem kleinen Kästchen, das auf meinem Nachttisch lag. Es befanden sich drei Knöpfe darauf. »Drücken Sie auf diesen hier!« riet er mir. Ich tat wie geheißen und beobachtete voller Erstaunen, wie die Jalousie sich langsam von selbst aufrollte und den Blick auf die weißen Türme von Katmandau und auf einen Teil des Aeroparks dahinter freigab.
»Sie sind wunderschön«, sagte ich, »diese Luftschiffe.«
»Nun, ja«, erwiderte er. »Ich glaube schon. Wissen Sie, für uns sind sie schon selbstverständlich. Doch das Luftschiff hat Indien eine Menge gebracht. Dem Empire und letztlich der ganzen Welt, wenn Sie so wollen. Schnellere Kommunikationsmöglichkeiten. Schnelleren Handelsaustausch. Größere Truppenmobilität.«
»Was mich erstaunt«, gestand ich ihm, »ist, daß sie oben bleiben. Ich meine, die Gasbehälter bestehen doch schließlich aus Metall.«
»Metall!« Er schüttelte sich vor Lachen. »Ich wünschte, ich könnte glauben, daß Sie mich auf den Arm nehmen wollen, Bastable. Metall! Die Hülle besteht aus Borfiber. Es ist haltbarer als Stahl und weitaus leichter. Das Gas ist Helium. In den Gondelteilen wird etwas Metall benötigt, doch weitgehend bestehen sie aus Plastik.«
»›Plastik‹ - Plastik - was?« erkundigte ich mich neugierig.
»Hm - Plastikmaterial… wird aus Chemikalien hergestellt… Lieber Gott, Sie müssen doch schon von Plastik gehört haben, Mann! Ich schätze, es ist eine Art Gummi, doch man kann es in verschiedenen Stärken, verschiedenen Formen und verschiedenen Graden von Elastizität herstellen…«
Ich gab den Versuch, Major Powell zu verstehen, auf. Selbst zu meinen besten Zeiten war ich kein großer Naturwissenschaftler gewesen. Ich nahm das Geheimnis seiner »Plastik« hin wie ein Schuljunge die Rätsel des elektrischen Lichts. Doch es war mir angesichts all dieser neuen Wunder ein Trost, daß sich einige Dinge nur wenig verändert hatten. In Wahrheit hatten sie sich sogar verbessert.
Den bissigen Kritikern des Imperialismus aus meinen Tagen hätte es sehr rasch die Sprache verschlagen, hätten sie das vernommen, was ich gerade gehört hatte - und den Beweis für Wohlstand und Stabilität erblickt, wie ich ihn vor meinem Fenster liegen sah. Ich glühte in diesem Augenblick vor Stolz und dankte der Vorsehung für diesen Blick auf Utopia. Im Lauf der letzten siebzig Jahre hatte der weiße Mensch seine Bürde ganz gut getragen, wie ich den Eindruck hatte.
Major Powell stand auf, trat ans Fenster und blickte wie zum Echo auf meine Gedanken hinaus, während seine Hände hinter seinem Rücken das Offiziersstöckchen umfaßten. »Wie gerne die Viktorianer dies alles erlebt hätten«, murmelte er. »Wo all ihre Ideale und Träume so ganz verwirklicht sind. Doch es gibt noch genug für uns zu tun.« Er drehte sich um, schaute mich scharf an, sein Gesicht lag zur Hälfte im Schatten. »Und ein grundlegendes Studium dessen, was uns die Vergangenheit lehrt, hilft uns bei dieser Arbeit, Bastable.«
»Ich bin sicher, daß Sie recht haben.«
Er nickte. »Ich weiß, daß ich recht habe.« Er nahm Haltung an und grüßte mit seinem Offiziersstöckchen. »Nun, alter Freund, ich muß weg. Die Pflicht ruft.«
Er trat zur Tür. Da geschah plötzlich etwas Seltsames. Ein dumpfes Beben, das das ganze Gebäude zu erschüttern schien. In der Ferne hörte ich Sirenen heulen und Glocken klingeln.
Major Powells Gesicht wirkte plötzlich finster, er war blaß geworden, und seine Augen blitzten vor Zorn.
»Was ist das, Major?«
»Eine Bombe.«
»Hier?«
»Anarchisten. Verrückte. Europäische Aufwiegler mit großer Gewißheit. Keinesfalls die Inder. Deutsche, Russen, Juden, sie alle haben ein begründetes Interesse an der Zerstörung der Ordnung.«
Er stürmte aus dem Zimmer. Nun rief ihn tatsächlich die Pflicht.
Der plötzliche Wechsel von Ruhe zu Gewalttätigkeit hatte mir den Atem stocken lassen. Ich lehnte mich ins Bett zurück und versuchte zu sehen, was draußen vor sich ging. Ich sah Armeewagen über den Luftpark rasen. Ich hörte das Geräusch einer weiteren Explosion in der Ferne. Wer in aller Welt konnte so verrückt sein, die Zerstörung eines solchen Utopia zu planen?
6 Ein Mann ohne Ziel
Es hatte ebensowenig Sinn, über die Gründe der Explosionen nachzudenken wie darüber zu brüten, wie ich es angestellt hatte, durch die Zeit ins Jahr 1973 zu reisen. Die Ereignisse, die auf die Bombenzwischenfälle in Katmandu folgten, spulten sich rasch
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