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Der Herr der Lüfte

Der Herr der Lüfte

Titel: Der Herr der Lüfte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Moorcock
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er neben mir in den Wagen stieg, mit einem leisen Zischen von Luft schlossen sich die Türen. »Wissen Sie, Bastable, Ihre Überraschung ist verdammt überzeugend. Ich wünschte, ich wüßte, was wirklich mit Ihnen nicht ganz stimmt.«
    Ich beschloß, nun meine Lüge an den Mann zu bringen. »Könnte es sich um eine Amnesie handeln, Doktor?« Es gab ein leichtes, sanftes Rucken, als der Wagen sich in Gang setzte. Doch ich vernahm nicht das vertraute Rattern eines Verbrennungsmotors. »Womit wird dieses Ding denn angetrieben?«
    »Was dachten Sie denn? Mit Dampf natürlich. Das ist ein ganz gewöhnlicher Stanley-Blitzzündungsdampfwagen.«
    »Kein Benzinmotor?«
    »Das will ich doch nicht hoffen! Primitive Dinger! Der Dampfmotor ist weit leistungsfähiger. Das alles müssen Sie doch wissen, Bastable. Ich will ja nicht behaupten, daß Sie mich absichtlich zu täuschen versuchen, aber…«
    »Ich glaube, Sie sollten besser davon ausgehen, daß ich alles bis auf meinen Namen vergessen habe, Doktor. Alles andere entspringt wahrscheinlich den Wahnvorstellungen, die ich durchlebt habe. Ergebnis von Erschöpfung und Verzweiflung, das jederzeit wieder auftreten kann. Wahrscheinlich werden Sie herausfinden, daß ich zu einer Bergexpedition gehört habe, die vor einiger Zeit verschwunden ist.«
    »Ja.« Aus seiner Stimme klang eine gewisse Erleichterung. »Ich dachte schon an Bergsteiger. Erinnern Sie sich nicht mehr an den Aufstieg? An die Namen der anderen Teilnehmer - oder etwas Derartiges?«
    »Ich fürchte, nein.«
    »Na schön«, sagte er und gab sich damit zufrieden, »wir machen jetzt jedenfalls einen Anfang.«
    Schließlich hielt der Wagen an, ich wurde wieder herausgerollt, diesmal auf eine hochgestellte Ladeplattform, die eigens zu diesem Zweck geschaffen worden war. Durch zwei Türen (welche sich offensichtlich ohne menschliches Zutun öffneten) gelangte ich in einen sauberen, hellen Korridor, bis zu einem Raum, der ebenso sauber und hell wirkte - und völlig nichtssagend.
    »Da wären wir«, sagte der Doktor.
    »Und wo ist da?«
    »Im Churchill-Krankenhaus - benannt nach dem letzten Vizekönig Lord Winston. Hat eine Menge für Indien getan, unser Churchill.«
    »Ist das der gleiche Churchill, der Bücher geschrieben hat? Die Kriegsberichte? Der Bursche, der mit den 21er-Ulanen 1898 in Omdurman den Angriff gestartet hat?«
    »Ich glaube schon. Das war ganz zu Beginn seiner Laufbahn. Sie kennen sich aber gut aus in Geschichte!«
    »Tja, da muß er sich sehr angestrengt haben«, lächelte ich, »um noch Vizekönig von Indien geworden zu sein!«
    Der Doktor warf mir wieder einen seltsamen Blick zu. »Nun schön, Hauptmann Bastable. Sie werden nur ein oder zwei Tage in Katmandu bleiben - bis der Lazarettzug nach Kalkutta abgeht. Ich denke, Sie benötigen einen Spezialisten für - Amnesien. Der nächste sitzt in Kalkutta.«
    Ich verkniff mir eine Antwort. Ich hatte mich gerade gefragt, ob Kalkutta sich ebenso verändert hatte wie Katmandu.
    »Und es geht heutzutage recht friedlich hier zu, nicht wahr?« sagte ich.
    »Friedlich? Das will ich hoffen. Ach, wir haben von Zeit zu Zeit ein klein bißchen Ärger mit extrem nationalistischen Gruppen, aber es ist nichts Ernstes. Kriege hat es seit über hundert Jahren nicht mehr gegeben.«
    »Dann ist mein Gedächtnisverlust wirklich gravierend«, sagte ich lächelnd.
    Er stellte sich unbehaglich neben mein Bett. »Äh, nun ja… Ah!« rief er erleichtert aus. »Da kommt Ihre Schwester. Leben Sie wohl, Bastable! Halten Sie die Ohren steif! Ich will nur noch…« Er nahm die Krankenschwester beim Ellbogen und schob sie nach draußen, die Tür schloß sich hinter ihnen.
    Ich wäre kein Mann mit den Instinkten eines Mannes, würde ich nicht zugeben, daß die Erscheinung meiner Schwester zugleich Freude und Überraschung in mir auslöste. Ich hatte nur einen Blick auf sie werfen können, doch der hatte mir gezeigt, wie sehr sich alles seit dem Jahre 1902 verändert hatte. Die Schwesterntracht bestand aus weiß-blauem, gestärktem Tuch und einer steifen Haube, die säuberlich auf ihr kastanienbraunes Haar geklammert war. Eine ganz gewöhnliche Schwesterntracht bis auf einen Umstand: ihr Rocksaum war mindestens 25cm vom Boden entfernt und enthüllte das hübscheste Waden- und Knöchelpaar, das ich jemals außerhalb der Bühne vom Empire-Theater am Leicester Square gesehen hatte! Gewiß gab das der Krankenschwester größere Bewegungsfreiheit und war im wesentlichen praktischer. Ich

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