Der Herr der Ringe: Neuüberarbeitung der Übersetzung von Wolfgang Krege, überarbeitet und aktualisiert (German Edition)
auf der Straße konnte man Reisenden begegnen, Zwergen zumeist, in geschäftiger Eile, die für Fremde nichts übrig hatten und kein Wort zu viel redeten.
»Ich sehe nicht, wie wir mit unseren Vorräten auskommen sollen«, sagte Frodo. »Wir waren sparsam genug in den letzten Tagen, und dieses Abendbrot ist auch kein Festgelage; und trotzdem haben wirmehr verbraucht, als wir dürften, wenn wir noch zwei Wochen und vielleicht länger marschieren müssen.«
»In der Wildnis findet man immer etwas zu essen«, sagte Streicher, »Beeren, Wurzeln und Kräuter, und zur Not verstehe ich mich aufs Jagen. Dass ihr bis Winteranfang verhungert, braucht ihr nicht zu befürchten. Aber Jagd und Nahrungssuche sind langwierig und mühsam, und wir müssen uns beeilen. Also schnallt die Gürtel enger und träumt einstweilen von den Tafelfreuden in Elronds gastlichem Haus!«
Mit der Dunkelheit nahm auch die Kälte zu. Wenn sie über den Rand der Mulde hinausspähten, sahen sie nur graues, nun rasch in den Schatten verdämmerndes Land. Der Himmel hatte sich wieder aufgeklärt und schmückte sich langsam mit blinkenden Sternen. Eingehüllt in sämtliche Kleidungsstücke und Decken, die sie besaßen, drängten sich Frodo und seine Freunde dicht ans Feuer; Streicher, dem ein einziger Mantel genügte, saß ein wenig abseits und zog nachdenklich an seiner Pfeife.
Als es Nacht geworden war und der Feuerschein nun weit hinaus leuchtete, begann er ihnen Geschichten zu erzählen, um sie von ihrer Angst abzulenken. Er kannte viele Berichte und Sagen aus alten Zeiten, von Elben und Menschen, von den Taten und Untaten der Ältesten Tage. Sie fragten sich, wie alt er wohl sein müsse und woher er dies alles wissen könne.
»Erzähle uns von Gil-galad«, sagte Merry plötzlich, als Streicher gerade mit einer Geschichte der Elbenkönigreiche zum Ende gekommen war. »Weißt du noch mehr von diesem alten Heldenlied, von dem du schon mal gesprochen hast?«
»Gewiss«, sagte Streicher. »Frodo wird es auch kennen, denn es geht uns sehr viel an.« Merry und Pippin sahen zu Frodo hin, der ins Feuer blickte.
»Ich weiß nur so viel, wie Gandalf mir erzählt hat«, sagte Frodo langsam. »Gil-galad war der letzte der großen Elbenkönige von Mittelerde. Gil-galad bedeutet Sternenlicht in der Elbensprache. Mit dem Elbenfreund Elendil zog er in das Land …«
»Nein!« unterbrach ihn Streicher. »Ich glaube, diese Geschichte sollte nicht jetzt erzählt werden, wo die Diener des Feindes so nah sind. Wenn wir uns erst bis zu Elronds Haus durchgeschlagen haben, könnt ihr sie dort in aller Ausführlichkeit hören.«
»Dann erzähl uns was anderes aus alten Zeiten«, bat Sam, »eine Geschichte von den Elben, aus der Zeit, bevor sie zu schwinden begannen. Ich würde so gern mehr von den Elben hören; man fühlt sich sonst so dicht umzingelt von der Dunkelheit.«
»Ich werde euch die Geschichte von Tinúviel erzählen«, sagte Streicher – »etwas abgekürzt, denn es ist eine lange Erzählung mit unbekanntem Ausgang; und heute lebt niemand mehr außer Elrond, der noch wüsste, wie sie einstmals erzählt wurde. Es ist eine schöne Geschichte, obwohl traurig wie alle Geschichten aus Mittelerde, und dennoch wird sie vielleicht euren Mut stärken.« Er schwieg einen Augenblick, dann begann er, nicht so sehr sprechend als vielmehr in einem leisen Singsang:
Das Gras war grün, das Laub hing dicht,
Die Schierlingsdolden blühten breit,
Da huschte durch den Wald ein Licht,
Wie Sternenglanz zur Erde fällt.
Tinúviel tanzte, Elbenmaid,
Zur Flöte, hold von Angesicht,
Von Sternen funkelte ihr Kleid
Und war ihr dunkles Haar erhellt.
Da irrte Beren durch den Wald,
Vom Berge kam er her allein,
Den Strom der Elben fand er bald
Und ging ihm voller Trauer nach.
Doch plötzlich sah er einen Schein
Vom Licht im dunklen Waldgemach,
Von wehenden Schleiern einen Schein
Und goldene Funken tausendfach.
Da stürzt, beseelt von neuer Kraft,
Der Wanderer aus fernem Land
Tinúviel nach in Leidenschaft,
Er greift nach ihr mit Ungestüm.
Ein Mondstrahl bleibt ihm in der Hand,
Durchs Dickicht tanzt sie leicht dahin,
Lässt ungestillt die Leidenschaft,
Und er muss einsam weiterziehn.
Wie oft vernimmt er flüchtigen Schritt
Von Füßen, leicht wie Lindenlaub,
Und unterirdische Musik,
Verwehend wie ein sterbender Ton.
Mit Nebelrauch und Silberstaub
Des Rauhreifs naht des Winters Tritt,
Mit leisem Wispern Blatt um Blatt
Fällt’s aus der Buchen welker
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