Der Herr der Ringe: Neuüberarbeitung der Übersetzung von Wolfgang Krege, überarbeitet und aktualisiert (German Edition)
Wegstunden von hier nach Gondor wären ein kleines Stück auf der Karte meiner Fahrten. Viele Gebirge und Flüsse habe ich überschritten und viele Ebenen durchquert, bis in die fernen Länder Rhûn und Harad, wo selbst die Sterne fremd sind.
Doch meine Heimat, wenn ich noch eine habe, ist der Norden. Denn dort haben Valandils Erben immer gelebt, in langer, ununterbrochener Erbfolge über viele Menschenalter hin, vom Vater zum Sohn. Unsere Tage haben sich verfinstert, und unser Volk ist geschrumpft; doch stets ist die Klinge an den nächsten Hüter übergegangen. Und so viel lass mich dir noch sagen, Boromir, ehe ich zum Ende komme: Einsame Männer sind wir, Waldläufer, Jäger – doch jagen wir immer nur die Diener des Feindes, denn die sind an vielen Orten und nicht nur in Mordor zu finden.
Wenn Gondor ein Bollwerk gewesen ist, Boromir, so haben wir eine andere Aufgabe erfüllt. Viele Unwesen gibt es, die eure festen Mauern und blanken Schwerter nicht aufhalten können. Ihr wisst nicht viel von den Ländern jenseits eurer Grenzen. Frieden und Freiheit sichert ihr, sagst du? Wenig hätte der Norden sie gekannt ohne uns. Furcht hätte beides zunichte gemacht. Wenn aber üble Kreaturen aus den unbewohnten Bergen oder aus den lichtlosen Wäldern herankriechen, dann sind wir es, vor denen sie fliehen.Welche Straßen würde man noch zu begehen wagen, wer wäre noch sicher in den ruhigen Ländern oder in den Häusern einfacher Leute bei Nacht, wenn die Dúnedain schliefen oder alle ins Grab gesunken wären?
Und Dank ernten wir weniger als ihr. Die Reisenden sehen uns scheel an, und auf den Dörfern gibt man uns geringschätzige Namen. ›Streicher‹ heiße ich für einen dicken Gastwirt, der nur einen Tagesmarsch von Feinden entfernt lebt, bei deren Anblick ihm das Herz stocken würde und die sein Städtchen in Schutt legen könnten, wenn man ihn nicht unablässig beschützte. Doch wir wollen es nicht anders. Schlichte Gemüter bleiben nur schlicht, solange sie von Furcht und Nöten nichts wissen; und darum müssen wir im Geheimen wirken. Dies ist das Werk meiner Sippe gewesen, während die Jahre länger wurden und die Steine Moos ansetzten.
Doch nun ändert die Welt sich wieder einmal. Eine neue Stunde bricht an. Isildurs Fluch wurde gefunden. Krieg steht bevor. Das Schwert wird neu geschmiedet. Ich komme nach Minas Tirith.«
»Du sagst, Isildurs Fluch wurde gefunden«, sagte Boromir. »Ich habe einen blanken Ring in der Hand des Halblings gesehen; doch Isildur, heißt es, sei umgekommen, ehe dieses Zeitalter der Welt begann. Woher wissen die Gelehrten, dass dieser Ring der seine ist? Und wie hat er all die Jahre überdauert, bis er von einem so seltsamen Boten hierher gebracht wurde?«
»Das soll berichtet werden«, sagte Elrond.
»Aber ich bitte dich, Meister, nicht gleich!«, sagte Bilbo. »Die Sonne steigt schon zum Mittag auf, und mir ist, als bedürfte ich einer Stärkung.«
»Noch hatte ich dich nicht aufgerufen«, sagte Elrond lächelnd, »doch jetzt tu ich’s. Fang an! Erzähl uns deine Geschichte. Und wenn du sie noch nicht in Verse gebracht hast, dann berichte sie uns in einfachen Worten! Und je kürzer du dich fasst, desto schneller kommst du zu deiner Stärkung.«
»Na schön«, sagte Bilbo, »ganz wie du willst! Ich möchte aber nur die Wahrheit erzählen, und wenn manche hier« – er warf Glóineinen Seitenblick zu – »die Geschichte aus meinem Munde schon einmal anders gehört haben, so bitte ich sie, es vergeben und vergessen sein zu lassen. Ich wollte damals nur meinen Anspruch auf den Schatz bekräftigen und den Schimpfnamen ›Dieb‹ abwehren, den man mir angehängt hatte. Doch vielleicht verstehe ich heute alles ein bisschen besser. Jedenfalls, so ist es gewesen.«
Manche kannten Bilbos Geschichte überhaupt noch nicht, und sie hörten voll Staunens zu, wie der alte Hobbit offenbar nicht ungern und in aller Ausführlichkeit über sein Abenteuer mit Gollum berichtete. Nicht eines von den Rätseln ließ er aus. Mit dem gleichen Vergnügen hätte er gewiss auch noch von seinem Abschiedsfest und seinem Verschwinden aus dem Auenland erzählt, hätte Elrond nicht abgewinkt.
»Trefflich erzählt, mein Freund«, sagte er, »doch mag dies einstweilen genügen. Fürs Erste müssen wir nur wissen, dass der Ring an Frodo, deinen Erben, übergeben ward. Ergreife er nun das Wort!«
Weniger bereitwillig als Bilbo berichtete Frodo nun von allem, was er mit dem Ring erlebt hatte, seit dem Tage, an
Weitere Kostenlose Bücher