Der Herr der Ringe: Neuüberarbeitung der Übersetzung von Wolfgang Krege, überarbeitet und aktualisiert (German Edition)
antwortete sie, »und manchem kann ich vor Augen führen, was er sehen will. Doch wird auch manches ungebeten im Spiegel erscheinen, und dies ist oft merkwürdiger und nützlicher als die Dinge, die wir zu sehen wünschen. Was du sehen wirst, wenn du dem Spiegel Freiheit lässt, auf seine Weise zu wirken, weiß ich nicht. Denn er zeigt manches, das war, und manches, das ist, und manches, das vielleicht sein wird. Was es aber ist, das der Betrachter sieht, kann auch der Weiseste nicht immer sagen. Willst du hineinsehen?«
Frodo antwortete nicht.
»Und du?«, sagte sie zu Sam. »Denn dies ist, glaube ich, was man bei deinem Volk Zauberei nennen würde; allerdings versteh ich nicht recht, wie ihr das meint, denn mit demselben Wort scheint ihr auch des Feindes Trugwerke zu bezeichnen. Doch dies, wenn du so willst, ist Galadriels Zauberei. Sagtest du nicht, du wolltest Elbenzauber sehen?«
»Stimmt!«, sagte Sam, ein wenig schwankend zwischen Furcht und Neugier. »Ich guck mal rein, hohe Frau, wenn ich darf.«
»Und ich hätte ja auch nichts dagegen, mal zu sehn, was zu Hause los ist«, sagte er leise zu Frodo. »Kommt mir so vor, als ob ich schon ewig lange fort bin. Aber, klar, da werd ich wohl nur die Sterne sehn oder irgendwas, das ich sowieso nicht versteh.«
»Gewiss!«, sagte die hohe Frau mit einem leisen Lachen in der Stimme. »Aber komm nur! Schau hinein und sieh, was du sehn kannst! Berühre das Wasser nicht!«
Sam stieg auf den Fuß des Sockels und beugte sich über das Becken. Das Wasser sah hart und dunkel aus. Es spiegelte die Sterne wider.
»Da sind nur Sterne, wie ich’s mir gedacht hab«, sagte er. Dann schnappte er hörbar nach Luft, denn die Sterne erloschen. Als wäre ein dunkler Schleier weggezogen worden, wurde der Spiegel erst grau, dann hell. Sonne schien, und Äste von Bäumen bogen und schüttelten sich im Wind. Aber ehe Sam sich darüber klar werden konnte, was er da sah, verblasste das Licht; und nun glaubte er Frodo zu erkennen, wie er, bleich im Gesicht und fest schlafend, zu Füßen eines großen, dunklen Felsens lag. Dann war ihm, als sehe er sich selbst einen dunklen Gang entlanggehen und eine endlose Wendeltreppe hinaufsteigen. Er wusste plötzlich, dass er verzweifelt nach etwas suchte, aber nach was, wusste er nicht. Wie in einem Traumgesicht verschob sich das Bild und kehrte zu den Bäumen zurück. Aber diesmal sah er sie nicht aus nächster Nähe und konnte überblicken, was vorging: sie schwankten nicht im Wind, sie fielen um, stürzten krachend zu Boden.
»He!«, rief er in heller Empörung. »Da ist doch dieser Timm Sandigmann und haut die Bäume um – das darf er nicht! Die dürfen gar nicht gefällt werden, das ist doch die Reihe hinter der Mühle, die der Straße nach Wasserau Schatten gibt! O, wenn ich den vor die Fäuste kriege, dann wird er gefällt!«
Aber nun bemerkte Sam, dass die alte Mühle nicht mehr da war und dass ein großer roter Backsteinklotz an der Stelle aufgebaut wurde, wo sie gestanden hatte. Ein ganzer Haufen Leute schaffte emsig. In der Nähe ragte ein roter Schornstein in die Höhe. Schwarzer Qualm schien den Spiegel zu trüben.
»Im Auenland ist irgendeine Teufelei im Gange«, sagte er. »Elrond wird gewusst haben, warum er Herrn Merry zurückschicken wollte.« Dann plötzlich schrie er laut auf und sprang von dem Sockel. »Ich kann nicht hier bleiben!«, sagte er wild entschlossen. »Ich muss sofort nach Hause. Sie haben den Beutelhaldenweg um und um gewühlt, und da geht der arme alte Ohm den Bühl runter, mit seinen Siebensachen auf einem Handkarren. Ich muss nach Hause!«
»Du kannst nicht allein heimkehren«, sagte Galadriel. »Ohne deinen Herrn wolltest du nicht heimkehren, bevor du in den Spiegelblicktest, und wusstest doch, dass im Auenland üble Dinge geschehen könnten. Bedenke auch, dass der Spiegel vieles zeigt und dass nicht alles schon eingetreten ist. Manches tritt nie ein, oder nur dann, wenn der, dem es erscheint, von seinem Weg abweicht, um es zu verhindern. Als Wegweiser zur Tat ist der Spiegel gefährlich.«
Sam setzte sich auf den Boden und legte den Kopf in die Hände. »Ich wollte, ich wäre nie hergekommen, und von der Zauberei will ich nichts mehr sehen«, sagte er und verstummte. Nach einer Weile redete er weiter, mit belegter Stimme, wie wenn er gegen Tränen ankämpfte. »Nein, ich geh mit Herrn Frodo auf dem langen Weg nach Hause oder überhaupt nicht«, sagte er. »Aber hoffentlich komm ich irgendwann zurück.
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