Der Herr der Ringe: Neuüberarbeitung der Übersetzung von Wolfgang Krege, überarbeitet und aktualisiert (German Edition)
Wenn sich das als wahr erweist, was ich gesehn habe, dann kann einer was erleben.«
»Willst du nun in den Spiegel blicken, Frodo?«, sagte Frau Galadriel. »Du wolltest keinen Elbenzauber sehen und sagtest, du kämest auch so zurecht.«
»Rätst du mir zu?«, fragte Frodo.
»Nein«, sagte sie, »ich rate nicht zu und rate nicht ab. Ich bin keine Ratgeberin. Vielleicht erfährst du etwas, und was du siehst, ob Schönes oder Schlimmes, kann hilfreich sein oder auch nicht. Zu sehen ist gut und gefährlich zugleich. Doch denke ich, Frodo, dass du Mut und Verstand genug hast, um es zu wagen, oder ich hätte dich nicht hierher geführt. Tu, wie dir beliebt!«
»Ich will hineinblicken«, sagte Frodo, stieg auf den Sockel und beugte sich über das dunkle Wasser. Sofort hellte der Spiegel sich auf, und er sah ein Land im Dämmerlicht. Dunkle Berge hoben sich in der Ferne vom blassen Himmel ab. Eine graue Straße zog sich hin und entschwand außer Sicht. Von weit hinten kam eine Gestalt langsam die Straße daher, kaum zu erkennen zuerst, dann im Näherkommen größer und deutlicher. Plötzlich begriff Frodo, dass sie ihn an Gandalf erinnerte. Fast hätte er den Zauberer beim Namen gerufen, da erkannte er, dass die Gestalt nicht in Grau, sondern in Weiß gekleidet war, in ein Weiß, das im Dämmerlicht ein wenigleuchtete, und in der Hand trug sie einen weißen Stab. Sie hielt den Kopf gesenkt, sodass er das Gesicht nicht erkennen konnte; und gleich wandte sie sich zur Seite um eine Biegung der Straße und verschwand aus dem Spiegelbild. Frodo kamen Zweifel: War ihm Gandalf erschienen, so wie er auf einer seiner einsamen Fahrten vor langer Zeit ausgesehen haben mochte, oder war es Saruman gewesen?
Nun wechselte das Bild. Kurz und klein, aber sehr deutlich sah er Bilbo in seinem Zimmer rastlos auf und ab gehen. Auf dem Tisch lagen allerlei Papiere kreuz und quer; Regen prasselte ans Fenster.
Nach einer Pause folgten viele rasch wechselnde Szenen, und Frodo wusste irgendwoher, dass sie in den Zusammenhang der großen Geschichte gehörten, in die er verwickelt war. Der Nebel lichtete sich, und er sah etwas, das er noch nie gesehen hatte und doch gleich erkannte: das Meer. Dunkelheit zog herauf. Das Meer bäumte sich auf und wütete. Dann sah er gegen die Sonne, die blutrot in Wolkentrümmern versank, die schwarze Silhouette eines hochmastigen Schiffs, das mit zerfetzten Segeln von Westen herantrieb. Dann einen breiten Strom, der durch eine bevölkerte Stadt floss. Dann eine weiße Burg mit sieben Türmen. Dann wieder ein Schiff, eines mit schwarzen Segeln, aber nun war es Morgen, und das Licht glitzerte auf dem gekräuselten Wasser, und eine Fahne mit dem Wahrzeichen eines weißen Baums leuchtete in der Sonne. Ein Dunst wie von Rauch und Schlachtenstaub stieg auf, und wieder versank die Sonne in roter Glut, die bald zu einem grauen Nebel verblasste; und in den Nebel fuhr ein kleines Schiff mit blinkenden Lichtern hinaus. Es verschwand, und Frodo seufzte und wollte schon zurücktreten.
Doch plötzlich wurde der Spiegel ganz und gar dunkel, so dunkel, als hätte sich in der sichtbaren Welt ein Loch aufgetan, und Frodo blickte ins Leere. In dem schwarzen Abgrund erschien ein einzelnes Auge, das wuchs und wuchs, bis es fast den ganzen Spiegel einnahm. So furchtbar sah es aus, dass Frodo wie festgewachsen davor stand, unfähig, zu schreien oder den Blick abzuwenden. Das Augewar mit Flammen umrandet, aber es selbst war glasig und gelb wie ein Katzenauge, wachsam und lauernd, und der schwarze Schlitz der Pupille öffnete sich über einem Abgrund, wie ein Fenster zum Nichts.
Das Auge begann zu schweifen, hierhin und dorthin; und Frodo hatte die grauenvolle Gewissheit, selbst eines der vielen Dinge zu sein, nach denen es spähte. Aber er wusste auch, dass es ihn nicht sehen konnte – noch nicht, nicht, wenn er es nicht wollte. Der Ring an der Kette um seinen Hals wurde schwer, schwer wie ein Mühlstein, und zog seinen Kopf hinab. Der Spiegel schien heiß zu werden, und Dampfkringel stiegen vom Wasser auf. Fast wäre Frodo vornüber gefallen.
»Berühre das Wasser nicht!«, sagte Frau Galadriel leise. Das Bild verblasste, und Frodo blickte auf die kühlen Sterne herab, die in dem silbernen Becken blinkten. Am ganzen Leibe zitternd, trat er zurück und sah die hohe Frau an.
»Ich weiß, was du zuletzt gesehen hast«, sagte sie, »denn dies steht auch mir vor Augen. Hab keine Furcht! Doch glaube nicht, dass dieses Land Lothlórien
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