Der Herr der Ringe: Neuüberarbeitung der Übersetzung von Wolfgang Krege, überarbeitet und aktualisiert (German Edition)
gewagt, Henneth Annûn zu betreten, und sein Leben ist verwirkt. Ich kann mich nur wundern über dieses Geschöpf: So schlau und verstohlen, wie er sonst ist, kommt er her und planscht in dem Becken vor unserem Fenster herum! Denkt er denn, wir Menschen schlafen, ohne Wachen aufzustellen? Warum tut er das?«
»Ich glaube, es gibt zwei Antworten«, sagte Frodo. »Zum einen weiß er von Menschen wenig, und eure Zuflucht ist so gut versteckt, dass er trotz all seiner Schläue nicht bemerkt hat, dass sich Menschen hier aufhalten. Zum andern, glaube ich, lockt ihn ein überwältigendes Verlangen hierher, das ihn alle Vorsicht vergessen lässt.«
»Lockt ihn, sagst du? Kann es sein«, sagte Faramir leise, »kann er denn, weiß er denn, welche Bürde du trägst?«
»Ja, allerdings. Er hat sie selbst viele Jahre getragen.«
» Er hat sie getragen?«, sagte Faramir, scharf ausatmend vor Verwunderung. »Rätsel folgt auf Rätsel in dieser Geschichte. Also ist er dahinter her?«
»Vielleicht. Sie ist ihm teuer. Aber das meinte ich nicht.«
»Was also sucht der Kerl hier?«
»Fische«, sagte Frodo. »Seht!«
Sie schauten hinunter auf den dunklen Teich. Am entfernten Ende des Beckens, kurz vor den tiefen Schatten der Felsen, tauchte ein kleiner schwarzer Kopf auf. Etwas Silbriges blitzte auf, und das Wasser kräuselte sich ein wenig. Der Kopf schwamm an den Rand, und eine froschähnliche Kreatur stieg mit unglaublicher Gelenkigkeit aus dem Wasser und die Böschung hinauf. Dort setzte sie sich hin und begann an dem kleinen silbrigen Ding zu nagen, das beim Drehen glitzerte: Die letzten Mondstrahlen fielen eben über die Felswand am Ende des Beckens herein.
Faramir lachte leise. »Fische!«, sagte er. »Das ist ein ungefährlicheres Verlangen. Aber vielleicht auch nicht. Fische aus dem Teich von Henneth Annûn können ihn teuer zu stehen kommen.«
»Jetzt habe ich ihn genau vor dem Pfeil«, sagte Anborn. »Soll ich nicht schießen, Hauptmann? Auf unerlaubtes Betreten dieses Ortes steht nach unserem Gesetz der Tod.«
»Warte, Anborn!«, sagte Faramir. »Die Frage ist schwieriger, als es scheint. Was hast du nun noch zu sagen, Frodo? Warum sollen wir ihn verschonen?«
»Dem Kerl geht es elend, und er hat Hunger«, sagte Frodo, »und der Gefahr ist er sich nicht bewusst. Schon deshalb, aber auch noch aus anderen Gründen hätte Gandalf – oder Mithrandir, wie du ihn nennst – dich gebeten, ihn am Leben zu lassen. Gandalf hat auch die Elben dazu bewogen. Ich weiß nicht genau, warum, und was ich ahne, davon kann ich hier nicht offen reden. Aber dieser Bursche hat irgendwie mit meinem Vorhaben zu tun. Bevor du uns gefunden und mitgenommen hast, war er mein Führer.«
»Dein Führer!«, sagte Faramir. »Die Geschichte wird immer sonderbarer. Ich würde viel für dich tun, Frodo, aber dies kann ich nicht zulassen: dass dieser Schleicher nach eigenem Gutdünken frei von hier fortgehen kann und sich später dir wieder anschließt, wenn esihm passt, oder aber von den Orks erwischt wird und, wenn sie ihm die Folter androhen, alles erzählt, was er weiß. Er muss entweder getötet oder eingefangen werden – getötet, wenn wir ihn nicht sehr schnell kriegen. Aber wie kann man diese aalglatte, ungreifbare Kreatur überhaupt fangen, außer mit einem gefiederten Schaft?«
»Lass mich ganz ruhig zu ihm hinuntergehen«, sagte Frodo. »Ihr könnt die Bogen gespannt halten und wenigstens mich erschießen, wenn mir’s nicht gelingt. Ich werde nicht weglaufen.«
»Dann geh und beeil dich!«, sagte Faramir. »Wenn er mit dem Leben davonkommt, sollte er dir für den Rest seiner unseligen Tage ein treuer Diener sein. Führe Frodo ans Ufer hinunter, Anborn, aber leise! Die Kreatur hat Nase und Ohren. Gib mir deinen Bogen!«
Murrend ging Anborn voraus, die Treppe wieder hinunter bis zum Absatz und dann die andere Treppe hinauf, bis zu einer schmalen, hinter dichtem Gebüsch verborgenen Öffnung. Leise trat Frodo hindurch. Er befand sich auf der südlichen Uferböschung über dem Teich. Es war nun dunkel, und der Wasserfall, blass und grau, spiegelte nur noch die letzten Spuren des Mondlichts vom westlichen Himmel wider. Er konnte Gollum nicht sehen. Er trat ein paar Schritte vor, und Anborn kam leise hinterdrein.
»Geh weiter!«, flüsterte er Frodo ins Ohr. »Vorsicht rechts von dir! Wenn du in den Teich fällst, kann nur noch dein fischender Freund dich retten. Und vergiss nicht, dass die Bogenschützen in der Nähe sind, auch wenn du
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