Der Herr der Ringe: Neuüberarbeitung der Übersetzung von Wolfgang Krege, überarbeitet und aktualisiert (German Edition)
unter der Sonne ergeht. Und ihr seid fern eurer Heimat und matt von der weiten Reise. Darum nichts mehr heute Abend! Geht schlafen, ihr beiden – in Frieden, wenn ihr könnt! Keine Sorge! Ich will ihn nicht sehen oder berühren oder mehr davon wissen, als ich nun weiß (denn das genügt); sonst lauert die Gefahr womöglich mir auf, und wer weiß, ob ich die Prüfung so gut bestünde wie Frodo, Drogos Sohn. Geht nun zu Bett – doch vorher sagt mir noch, wenn ihr wollt, wohin ihr zu gehen gedenkt, und was zu tun wäre. Denn ich muss noch wach bleiben, auf der Hut sein und vieles bedenken. Die Zeit vergeht. AmMorgen müssen wir uns jeder eilends auf den ihm vorgezeichneten Weg machen.«
Frodo hatte gemerkt, wie er zitterte, als der erste Schreck verflogen war. Nun senkte sich eine große Müdigkeit wie eine Wolke auf ihn. Er konnte sich nicht länger sträuben und verstellen.
»Ich suche einen Weg nach Mordor hinein«, sagte er matt. »Ich will in die Gorgoroth. Ich muss zum Flammenberg und das Ding in die Schicksalskluft werfen. So hat es Gandalf gesagt. Ich glaube nicht, dass ich je dorthin komme.«
Faramir schaute ihn einen Augenblick sprachlos staunend an. Dann, als Frodo schwankte und umzufallen schien, fing er ihn auf, trug ihn zu seinem Bett, legte ihn sachte darauf nieder und deckte ihn warm zu. Sofort fiel Frodo in einen tiefen Schlaf.
Neben seinem Bett wurde ein zweites für seinen Diener aufgestellt. Sam zögerte einen Moment, dann machte er eine tiefe Verbeugung. »Gute Nacht, Herr Feldhauptmann«, sagte er. »Du hast die Gelegenheit genutzt.«
»Ja?«, sagte Faramir.
»Ja, und hast gezeigt, was du für einer bist: einer von den Besten.« Faramir lächelte. »Ein vorlauter Diener bist du, Herr Samweis!
Doch nein: Das Lob der Lobenswerten ist höchster Lohn. Doch hier gibt es nichts zu loben. Was ich getan habe, kostete mich keine Überwindung.«
»Je nun, Feldhauptmann«, sagte Sam, »du hast gesagt, mein Master habe etwas Elbisches an sich, und das war gut und richtig. Aber ich kann dazu nur sagen: Du hast auch so etwas an dir, das erinnert mich an … nun ja, an Gandalf, an Zauberer.«
»Vielleicht«, sagte Faramir. »Vielleicht erkennst du etwas, das von fern an Númenor erinnert. Gute Nacht!«
SECHSTES KAPITEL
DER VERBOTENE TEICH
F rodo erwachte und sah Faramir über sich gebeugt. Eine Sekunde lang packten ihn die alten Befürchtungen von neuem. Er fuhr hoch und schrak zurück.
»Keine Angst!«, sagte Faramir.
»Ist schon Morgen?«, sagte Frodo gähnend.
»Noch nicht, aber die Nacht ist bald um, und der Vollmond geht unter. Willst du mitkommen und ihn sehen? Und dann ist da noch etwas, wozu ich deinen Rat hören möchte. Es tut mir leid, deinen Schlaf zu stören, aber kommst du bitte mit?«
»Ich komme«, sagte Frodo. Er stand auf, ein wenig bibbernd nach der Trennung von der warmen Decke und den Fellen. Es war kalt, denn in der Höhle brannte kein Feuer. Das Geräusch des Wasserfalls war sehr laut in der Stille. Er zog seinen Mantel über und folgte Faramir.
Sam, aufgeschreckt von einem wachsamen Instinkt, sah als Erstes, dass Frodos Bett leer war, und sprang auf. Dann sah er die Umrisse zweier Gestalten, Frodos und eines Menschen, sich gegen die Toröffnung abheben, die nun von einem blassen weißen Licht erhellt war. Er eilte ihnen nach, vorbei an den Reihen der schlafenden Männer auf ihren Matratzen entlang der Wand. Als er durchs Tor hinauskam, sah er, dass der Wasservorhang nun zu einem glitzernden Schleier aus Seide, Perlen und Silberfäden geworden war: schmelzende Eiszapfen im Mondschein. Aber er konnte nicht stehen bleiben, um ihn zu bewundern, sondern folgte seinem Herrn seitwärts durch die schmale Tür in der Höhlenwand.
Sie gingen zuerst durch einen dunklen Gang, dann viele feuchteStufen hinauf, bis zu einem kleinen flachen, in den Fels gehauenen Absatz, in den durch einen tiefen Schacht das Licht des blassen Himmels hereinfiel. Hier zweigten zwei Treppen ab, die eine, wie es schien, zur hohen Uferböschung des Baches hinauf, die andere nach links. Diese, die sich wie eine Wendeltreppe in einem Turm hochschraubte, stiegen sie empor. Sie traten aus dem steinernen Dunkel ins Freie und schauten sich um. Sie standen auf einem breiten, flachen Felsen ohne Geländer oder Brüstung. Rechts von ihnen, nach Osten zu, ergoss sich der Wildbach plätschernd über viele Stufen hinweg, floss dann einen steilen Graben hinunter und erfüllte eine glatt behauene Rinne mit der Gewalt
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