Der Herr der Ringe: Neuüberarbeitung der Übersetzung von Wolfgang Krege, überarbeitet und aktualisiert (German Edition)
sie nicht siehst!«
Frodo kroch voran, wobei er ganz wie Gollum die Hände gebrauchte, um den Weg zu ertasten und sich Halt zu geben. Der Fels war größtenteils flach und eben, aber schlüpfrig. Er hielt an und horchte. Zuerst war nichts zu hören als das unaufhörliche Rauschen des Wasserfalls hinter ihm. Dann aber, nicht weit voraus, hörte er ein zischelndes Gemurmel.
»Fisssch, lieber Fisssch! Weißfratze ist verschwunden, mein Schatz, endlich, ja! Jetzt in aller Ruhe Fisch fressen. Nein, nicht in aller Ruhe, mein Schatz. Schatz ist weg, ja, weg. Dreckige Hobbits, garstige Hobbits! Gehn und lassen uns allein, gollum, und Schatzist weg. Und der arme Sméagol ganz allein. Kein Schatz. Garstige Menschen, die nehmen ihn weg, stehlen meinen Schatz! Diebe! Wir hassen sie. Fisssch, lieber Fisssch! Macht uns stark. Macht Augen scharf und Finger fest, ja. Erwürgen, Schatz, alle erwürgen, ja, wenn wir sie zwischen die Finger kriegen! Lieber Fisssch, lieber Fisssch!«
So ging es weiter, fast so unaufhörlich wie der Wasserfall, unterbrochen nur von leisen Grunz- und Schmatzlauten. Fröstelnd vor Mitleid und Abscheu hörte Frodo es sich an. Wenn es doch nur ein Ende nähme und er diese Stimme nie wieder hören müsste! Anborn war nicht weit hinter ihm. Er konnte zurückkriechen und ihm sagen, dass die Schützen ihre Pfeile loslassen sollten. Wahrscheinlich kämen sie nah genug heran, während Gollum fraß und nicht auf der Hut war. Nur ein guter Schuss, und Frodo wäre die elende Stimme für immer los. Aber nein, er war nun Gollum etwas schuldig. Der Diener hat einen Anspruch gegen seinen Herrn, selbst dann, wenn er ihm nur unter Zwang gedient hat. Ohne Gollum wären sie in den Totensümpfen steckengeblieben. Außerdem wusste Frodo ganz sicher, irgendwoher, dass Gandalf mit Gollums Tod nicht einverstanden gewesen wäre.
»Sméagol!«, sagte er leise.
»Fisssch, lieber Fisssch!«, sagte die Stimme.
»Sméagol!«, wiederholte er, etwas lauter. Die Stimme schwieg.
»Sméagol, der Herr ist gekommen und sucht dich. Der Herr ist hier. Komm her, Sméagol!« Es kam keine Antwort, nur ein leises Zischen, wie wenn er Luft holte.
»Komm her, Sméagol!«, sagte Frodo. »Wir sind in Gefahr. Menschen töten dich, wenn sie dich hier finden. Komm rasch, wenn du nicht sterben willst! Komm zum Herrn!«
»Nein!«, sagte die Stimme. »Der Herr ist nicht lieb. Lässt armen Sméagol allein und geht mit neuen Freunden. Der Herr kann warten. Sméagol will erst aufessen.«
»Dazu ist keine Zeit«, sagte Frodo. »Bring deinen Fisch doch mit! Komm!«
»Nein! Erst Fisch aufessen.«
»Sméagol!«, sagte Frodo, aufs Ganze gehend. »Schatz wird böse. Ich nehme Schatz raus und sag ihm: Lass ihn an den Gräten ersticken! Nie wieder Fisch fressen! Komm jetzt, Schatz wartet!«
Ein scharfes Zischen war zu hören. Gleich darauf kam Gollum auf allen vieren aus der Dunkelheit gekrochen, wie ein Hund, der »bei Fuß!« gerufen wird. Die noch nicht aufgegessene Hälfte von einem Fisch hatte er im Mund, einen anderen Fisch in der Hand. Er kam dicht heran, fast Nase an Nase mit Frodo, und beschnüffelte ihn. Seine wässrigen Augen leuchteten. Dann nahm er den Fisch aus dem Mund und stand auf.
»Guter Master!«, flüsterte er. »Lieber Hobbit, kommt zurück zum armen Sméagol. Guter Sméagol kommt. Jetzt schnell fort, ja! Durch die Bäume, solang die Fratzen noch dunkel sind! Ja, schnell fort!«
»Ja, bald gehn wir«, sagte Frodo. »Aber noch nicht gleich. Ich gehe mit dir, wie versprochen. Ich versprech es noch mal. Aber nicht jetzt gleich. Du bist noch nicht in Sicherheit. Ich werde dich retten, aber du musst mir vertrauen.«
»Dem Master vertrauen?«, sagte Gollum skeptisch. »Warum? Warum nicht gleich fort? Wo ist der andere, der grobe, garstige Hobbit? Wo ist er?«
»Da oben«, sagte Frodo, zum Wasserfall hinaufzeigend. »Ohne ihn geh ich nicht. Wir müssen zu ihm zurück.« Ihm war nicht wohl dabei; dies war einer Betrügerei allzu ähnlich. Er befürchtete nicht wirklich, dass Faramir zulassen würde, dass sie Gollum umbrachten, aber wahrscheinlich würde er ihn gefangen nehmen und fesseln lassen; und was Frodo jetzt tat, erschiene der armen verräterischen Kreatur sicherlich als Verrat. Es wäre wohl unmöglich, ihm je verständlich oder glaubhaft zu machen, dass Frodo ihm nur auf diese Weise das Leben retten konnte. Was sollte er anders tun, um nach beiden Seiten, so gut es ging, Wort zu halten? »Komm!«, sagte er. »Oder der Schatz wird
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