Der Herr der Ringe: Neuüberarbeitung der Übersetzung von Wolfgang Krege, überarbeitet und aktualisiert (German Edition)
gesehen, was du gesehen hast, Éomer. Kein Unglück dieser Welt beschämt das Herz eines Mannes bitterer, als die Liebe einer so schönen und mutigen Frau zu bemerken und sie nicht erwidern zu können. Der Schmerz und das Mitleiden haben mich auf dem ganzen Weg begleitet, seit ich sie in Dunharg in ihrer Verzweiflung zurückließ und zu den Pfaden der Toten ritt; und keine Sorge hat mich mehr beschäftigt als die Sorge, was ihr geschehen könnte. Und doch, Éomer, lass mich dir sagen, dass sie dich aufrichtiger liebt als mich; denn dich liebt und kennt sie, während sie in mir nur einen Schatten und einen Gedanken liebt: eine Hoffnung auf Ruhm und Heldentaten und ferne Länder, weit von Rohans Feldern.
Vielleicht wird meine Kraft ausreichen, ihren Leib zu heilen und sie aus dem dunklen Tal zurückzurufen. Aber welches ihr Los sein wird, wenn sie erwacht, ob Hoffnung, Vergessen oder Verzweiflung, das weiß ich nicht. Wenn es Verzweiflung ist, wird sie sterben, es sei denn, eine andere Arznei heilte sie, die ich ihr nicht geben kann. Welch ein Jammer! Denn um ihrer Tat willen hat sie einen Platz unter den meistbesungenen Königinnen verdient.«
Dann beugte Aragorn sich über sie und sah ihr ins Gesicht, und es war in der Tat lilienweiß, eiskalt und hart wie aus Stein gehauen. Er aber küsste sie auf die Stirn und rief sie leise beim Namen:
»Éowyn, Éomunds Tochter, wach auf! Denn dein Feind ist dahingegangen.«
Sie rührte sich nicht, aber bald begann sie tiefer zu atmen, sodass ihre Brust unter dem weißen Leinen des Lakens auf und nieder ging. Wieder zerrieb Aragorn zwei Blätter Athelas und warf sie insheiße Wasser; und damit wusch er ihr die Stirn und den rechten Arm, der kalt und taub auf der Decke lag.
Dann, ob nun Aragorn wirklich dank einer vergessenen Kraft aus Westernis oder nur durch seine Worte an die Frau Éowyn auf die Umstehenden einwirkte, schien es ihnen, als der liebliche Einfluss des Krautes sich im Raum geltend machte, dass ein kräftiger Wind durchs Fenster hereinwehte; und er brachte keinen Wohlgeruch, sondern nur Luft, aber sie war so vollkommen rein und jugendfrisch, als käme sie neu geschaffen und noch von keiner lebenden Kreatur geatmet von den schneebedeckten Berggipfeln oben unterm Sternendach oder von silbernen meerumspülten Gestaden in weiter Ferne.
»Wach auf, Éowyn, Herrin von Rohan!«, sagte Aragorn noch einmal, nahm ihre rechte Hand und fühlte, wie das wiederkehrende Leben sie erwärmte. »Wach auf! Der Schatten ist fort, und alles Dunkle ist weggewaschen.« Dann legte er ihre Hand in Éomers Hand und trat beiseite. »Rufe sie!«, sagte er und ging leise aus der Kammer.
»Éowyn, Éowyn!«, rief Éomer unter Tränen. Sie aber schlug die Augen auf und sagte: »Éomer! Was bin ich froh! Denn sie haben gesagt, du seiest gefallen. Nein, das waren nur dunkle Stimmen in meinem Traum. Wie lange träume ich schon?«
»Nicht lange, Schwester«, sagte Éomer. »Aber denk nicht mehr daran!«
»Ich bin so sonderbar müde«, sagte sie. »Ich muss ein wenig ausruhen. Doch sag mir, was ist mit dem Herrn der Mark? O weh! Erzähl mir nicht, das sei ein Traum gewesen, denn ich weiß, es war keiner. Tot ist er, wie er es vorhersah.«
»Er ist tot«, sagte Éomer, »aber er hat mich gebeten, Éowyn Lebewohl zu sagen, die ihm teurer als eine Tochter war. Er liegt nun ehrenvoll aufgebahrt in der Zitadelle von Gondor.«
»Traurig ist es«, sagte sie, »und doch besser als alles, was ich in den dunklen Tagen zu hoffen wagte, als Eorls Haus an Ehren ärmer schien als jede Schäferkate. Und des Königs Knappe, der Halbling?Éomer, du musst ihn zum Ritter der Riddermark schlagen; er ist tapfer.«
»Er liegt in diesem Haus ganz in der Nähe, und ich gehe gleich zu ihm«, sagte Gandalf. »Éomer wird noch eine Weile hierbleiben. Aber sprecht nicht mehr von Krieg und Kummer, bis du ganz wiederhergestellt bist! Eine große Freude ist es, eine so tapfere Frau zur Genesung und zu neuer Hoffnung erwachen zu sehn.«
»Genesung?«, sagte Éowyn. »Vielleicht. Zumindest für die Zeit, wo ich noch den leeren Sattel irgendeines gefallenen Reiters einnehmen und das eine oder andere tun kann. Aber Hoffnung? Ich weiß nicht.«
Gandalf und Pippin kamen in Merrys Kammer, wo Aragorn schon am Bett stand. »Der arme, alte Merry!«, rief Pippin und lief hinzu, denn ihm schien, dass sein Freund schlechter aussah als zuletzt; und ein Grau wie von der Last vieler schmerzlich durchlittener Jahre lag auf seinem
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