Der Herr der Ringe: Neuüberarbeitung der Übersetzung von Wolfgang Krege, überarbeitet und aktualisiert (German Edition)
zertrümmerten Tor saß nun der Nazgûl und stieß seine mörderischen Schreie aus. Alle Felsen hallten davon wider.
Schleunigst stolperten sie weiter. Bald bog die Straße wieder scharf nach Osten ab und brachte sie für einen bedenklichen Moment ins Sichtfeld des Turms. Als sie hinüberflitzten, warfen sie einen Blick zurück und sahen die große schwarze Gestalt auf der Mauer; dann tauchten sie zwischen hohe Felswände ein, einen Durchstich, der steil abfallend zur Morgulstraße hinführte. Als sie die Einmündung erreichten, war noch immer nichts von Orks oder von irgendetwas, das der Nazgûl herbeizurufen schien, zu sehen oder zu hören; aber sie wussten, dass die Ruhe nicht lange anhalten würde. Jeden Moment konnte die Jagd beginnen.
»So kommen wir nicht weit, Sam«, sagte Frodo. »Wenn wir echte Orks wären, müssten wir jetzt zum Turm hinrennen, nicht davon weg. Gleich der erste Feind, dem wir begegnen, wird uns durchschauen. Wir müssen irgendwie runter von dieser Straße.«
»Ohne Flügel geht es nicht«, sagte Sam.
Die Ostseite des Ephel Dúath bildeten kahle Felswände, die steil zu der dunklen Rinne hin abstürzten, die sie von der inneren Bergkette trennte. Nach der Einmündung gingen sie auf der Morgulstraße noch ein kurzes Stück und kamen, nach einem starken Gefälle, zu einer steinernen Brücke, die sich über den Abgrund hinwegschwang und die Straße in die zerklüfteten Hänge und Schluchten des Morgai führte. Frodo und Sam spurteten aus Leibeskräften die Brücke entlang, aber sie waren noch nicht auf der andern Seite, als das Geschrei und Getöse der Verfolgung begann. Hinter ihnen, hoch oben am Berghang, stand der Turm von Cirith Ungol, die Mauern dunkel glühend. Plötzlich gab die Glocke dort wieder einen ihrer Misstöne ab, und gleich darauf brach sie in schepperndes Gehämmer aus. Hörner schallten. Und von der andern Seite der Brücke kamen Antwortrufe. In der dunklen Rinne unten, wo der abnehmende Schein des Orodruin nicht hinfiel, konnten die Hobbits nicht viel sehen; aber schon hörten sie den Tritt eisenbeschlagener Stiefel, und auf der Straße klapperten Pferdehufe im Galopp heran.
»Rasch, Sam! Da müssen wir rüber!«, rief Frodo. Sie krochen auf das niedrige Brückengeländer. Zum Glück lag kein Abgrund mehr unter ihnen, denn die Hänge des Morgai reichten schon fast bis zur Höhe der Straße herauf; aber um die Falltiefe richtig einschätzen zu können, war es zu dunkel.
»Auf Wiedersehn, Herr Frodo!«, sagte Sam, als er das Geländer losließ. Frodo folgte. Und noch im Fallen hörten sie Reiter über die Brücke donnern, gefolgt von trappelnden Orkstiefeln. Trotzdem hätte Sam gelacht, wenn er es gewagt hätte. Statt, wie sie halb befürchtet hatten, auf in der Tiefe verborgenen Felsen zu zerschellen, landeten die Hobbits nach einem Fall von nur einem Dutzend Fuß mit dumpfem Krachen und Knistern in etwas, das sie hier am wenigsten erwartet hatten: dichtem Dornengestrüpp. Sam blieb still liegen und leckte die Wunden an seiner zerkratzten Hand.
Als die Hufe und Stiefel vorüber waren, riskierte er ein Flüstern.»Meine Güte, Herr Frodo, ich wusste gar nicht, dass in Mordor irgendwas wächst. Aber hätt ich’s gewusst, hätt ich genau so was erwartet. Diese Dornen müssen ja einen Fuß lang sein, so wie sich das anfühlt; sind durch alles gedrungen, was ich anhabe. Ich wollte, ich hätte auch so ein Panzerhemd angelegt!«
»Orkpanzer halten diese Dornen nicht ab«, sagte Frodo. »Auch ein Lederwams nützt da nichts.«
Aus dem Gestrüpp herauszukommen, war nicht einfach. Die Dornen und Ranken waren zäh wie Draht und klammerten sich fest wie Klauen. Als sie sich endlich losgemacht hatten, waren ihre Umhänge voller Löcher und Risse.
»Da hinunter, Sam!«, flüsterte Frodo. »Schnell runter in dieses Tal und dann so bald wie möglich nach Norden abbiegen.«
Anderswo auf der Welt wurde es wieder Tag, und weit hinter den Wolken von Mordor stieg die Sonne über den Ostrand von Mittelerde; hier aber war noch immer Nacht. Der Schicksalsberg schwelte nur noch, und seine Feuer erloschen. Der Glutschein verlor sich von den Felswänden. Der Ostwind, der ihnen immer entgegengeweht hatte, seit sie Ithilien hinter sich gelassen hatten, schien sich gelegt zu haben. Langsam und mühevoll kletterten sie hinunter, tastend und stolpernd in der Dunkelheit, zwischen Felsen, Gestrüpp und totem Holz hindurchkrabbelnd, immer bergab, bis es nicht mehr weiter hinunterging.
Endlich
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