Der Herr der Ringe: Neuüberarbeitung der Übersetzung von Wolfgang Krege, überarbeitet und aktualisiert (German Edition)

Tür zu den Sammath Naur. Von fernher drang die Sonne durch Qualm und Dunst und brannte heiß und ahnungsvoll, eine stumpfrote, verschwommene Scheibe hoch am südlichen Himmel; doch ganz Mordor lag nun um den Berg wie ein totes Land, still und schattenumfangen, in Erwartung eines gewaltigen Stoßes.
    Sam kam an die gähnend offene Tür und spähte hinein. Drinnenwar es dunkel und heiß, und ein tiefes Rumoren ließ die Luft erbeben. »Frodo!«, rief er. »Master!« Keine Antwort. Einen Moment blieb er stehen. Sein Herz klopfte vor Angst. Dann stürmte er hinein. Ein Schatten folgte ihm auf dem Fuße.
    Zuerst sah er gar nichts. In seiner Not zog er wieder Galadriels Phiole aus der Tasche, aber sie blieb blass und kalt in seiner zitternden Hand und warf kein Licht in die erstickende Finsternis. Er stand im Herzen von Saurons Reich, an der Schmiede seiner uralten Macht, der größten in Mittelerde, und alle andern Mächte waren hier ihrer Stärke beraubt. Ängstlich tat er ein paar stockende Schritte in die Dunkelheit hinein, und dann, mit einem Mal, sprang ein roter Blitz auf und prallte an die hohe schwarze Decke. Sam konnte sehen, dass er in einer langgestreckten Höhle oder einem Tunnel war, der in den rauchenden Kegel des Berges hineinführte. Doch nur ein kleines Stück vor ihm klaffte im Boden und in den Wänden zu beiden Seiten eine große Spalte, und aus ihr kam die rote Flamme, die bald hoch aufloderte, bald ins Dunkel hinabsank; und die ganze Zeit kam von tief unten ein Rumoren wie von pochenden und brummenden Maschinen.
    Das Licht flammte wieder auf, und da, am Rand der Spalte, der Schicksalskluft, stand Frodo, aufrecht, straff, wie versteinert.
    »Master!«, rief Sam.
    Da rührte sich Frodo und sprach mit einer Stimme, die klarer und mächtiger war, als Sam sie je von ihm gehört hatte, und sie übertönte das Pochen und Brodeln des Schicksalsbergs und hallte von der Decke und den Wänden wider.
    »Ich bin gekommen«, sagte er. »Doch jetzt ziehe ich vor, nicht zu tun, wozu ich gekommen bin. Ich will diese Tat nicht tun. Der Ring ist mein.« Und dann steckte er den Ring auf den Finger und verschwand vor Sams Augen. Sam schnappte nach Luft und wollte aufschreien; aber dazu kam er nicht, denn in diesem Moment passierten mehrere Dinge zugleich.
    Etwas stieß ihn heftig in den Rücken, die Beine wurden ihm weggerissen, und er flog beiseite und schlug mit dem Kopf auf den steinernen Boden, als eine dunkle Gestalt über ihn hinwegsprang. Er blieb liegen, und für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen.
    Und in der Ferne begann der Mächtige von Barad-dûr zu zittern, als Frodo im Innersten seines Reiches, in den Sammath Naur, den Ring aufsteckte und ihn sein Eigen nannte; und der Turm erbebte von den Grundfesten bis zu seiner stolzen, grimmigen Krone. Plötzlich gewahrte der Dunkle Herrscher den Hobbit, und sein Auge, das alle Schatten durchdrang, blickte über die Ebene zu der Tür hin, die er selbst eingesetzt hatte; und blendend hell erkannte er das Ausmaß der eigenen Torheit, und alle geheimen Absichten seiner Feinde waren durchschaut. Die verzehrende Flamme seines Zorns loderte auf; doch wie eine dicke schwarze Rauchwolke nahm die Furcht ihm den Atem. Er kannte die Größe der Gefahr und wusste, dass sein Schicksal nun an einem Faden hing.
    Von all seinen Machenschaften, all den Gespinsten von Trug und Einschüchterung, allen Kriegsplänen und Verrätereien riss sein Geist sich los; und durch sein ganzes Reich lief ein Beben: Seine Knechte verloren den Mut, seine Heere standen still, und seine Hauptleute, plötzlich des Willens beraubt, der sie lenkte, wussten nicht mehr aus noch ein und ergaben sich der Verzweiflung. Denn sie waren vergessen. Alles Denken und Trachten der Macht, deren Werkzeug sie waren, wandte sich nun in voller Stärke zum Berg hin. Auf seinen Ruf stürzten mit ohrenzerreißenden Schreien die Nazgûl heran, die Ringgeister, und brausten nach Süden, zum Schicksalsberg, schneller als jeder Wind, in der verzweifelten Hast letzter Sekunden.
    Sam stand auf. Er war benommen, Blut rann ihm von der Stirn und tropfte ihm in die Augen. Er tastete sich vorwärts, und dann sah er etwas Seltsames und Schreckliches. Am Rand der Spalte kämpfte Gollum wie verrückt mit einem unsichtbaren Gegner. Hin und her wand er sich, jetzt so nah am Abgrund, dass er fast hineingestürzt wäre, dann sich zurückreißend, zu Boden fallend, aufstehend, wieder fallend. Die ganze Zeit zischte und fauchte er, sprach