Der Herr der Ringe
der Tür von Orthanc und schlug mit seinem Stab dagegen. Es klang hohl. »Saruman, Saruman!«, rief er mit lauter, befehlender Stimme. »Saruman, komm heraus!«
Eine Zeitlang kam keine Antwort. Schließlich wurde das Fenster über der Tür aufgeriegelt, aber man sah niemanden in der dunklen Öffnung.
»Wer ist da?«, fragte eine Stimme. »Was wünscht ihr?«
Théoden fuhr zusammen. »Ich kenne diese Stimme«, sagte er, »und ich verfluche den Tag, da ich zum ersten Mal auf sie hörte.«
»Geh und hole Saruman, nachdem du sein Bedienter geworden bist, Gríma Schlangenzunge!«, sagte Gandalf. »Und verschwende unsere Zeit nicht!«
Das Fenster wurde geschlossen. Sie warteten. Plötzlich sprach eine andere Stimme, leise und melodisch, allein ihr Klang war eine Verzauberung. Jene, die arglos dieser Stimme lauschten, konnten selten die Worte berichten, die sie gehört hatten; und wenn sie es taten, wunderten sie sich, denn wenig Überzeugungskraft war in ihnen geblieben. Meistens erinnerten sie sich nur, dass es eine Freude gewesen war, die Stimme sprechen zu hören; alles, was sie sagte, schien klug und vernünftig zu sein, und der Wunsch erwachte in ihnen, durch rasche Zustimmung selbst klug zu erscheinen. Wenn andere sprachen, klangen ihre Stimmen im Vergleich dazu schrill und grob; und wenn sie der Stimme widersprachen, entbrannte Ärger in den Herzen jener, die von ihr bezaubert waren. Bei manchen hielt der Zauber nur so lange an, wie die Stimme zu ihnen sprach, und wenn sie mit einem anderen sprach, lächelten sie, wie Männer lächeln, die das Kunststück eines Gauklers schon durchschauen, während andere noch Mund und Nase aufsperren. Für viele war allein der Klang der Stimme ausreichend, sie im Banne zu halten; aber bei denjenigen, die von ihr bezwungen worden waren, hielt der Zauber an, auch wenn sie weit fort waren, und immer hörten sie diese sanfte Stimme flüstern und sie anspornen. Aber keiner blieb ungerührt; keiner wies ihre Bitten und Befehle zurück ohne eine Anstrengung des Geistes und des Willens, solange er noch die Herrschaft darüber hatte.
»Nun?«, fragte sie jetzt sanft. »Warum müsst ihr meine Ruhe stören? Wollt ihr mir überhaupt keinen Frieden gönnen bei Tag oder bei Nacht?« Ihr Ton war der eines freundlichen Herzens, das betrübt ist über unverdiente Ungerechtigkeiten.
Sie schauten erstaunt hinauf, denn sie hatten ihn gar nicht kommen hören; und sie sahen eine Gestalt am Geländer stehen, die zu ihnen herabblickte: Ein alter Mann, in einen weiten Mantel gehüllt, dessen Farbe nicht leicht auszumachen war, denn sie änderte sich, wenn sie ihre Augen bewegten oder er sich rührte. Sein Gesicht war lang, die Stirn hoch, und er hatte tiefliegende, dunkle Augen, die schwer zu ergründen waren, obwohl ihr Ausdruck jetzt ernst und gütig war und ein wenig müde. Haar und Bart waren weiß, doch sah man um Lippen und Ohr noch schwarze Strähnen.
»Ähnlich, und doch unähnlich«, murmelte Gimli.
»Doch was gibt es«, sagte die sanfte Stimme. »Zumindest zwei von euch kenne ich mit Namen. Gandalf kenne ich zu gut, um viel Hoffnung zu haben, dass er hier Hilfe oder Rat sucht. Aber Ihr, Théoden, Herr der Mark von Rohan, seid erkennbar an Eurem edlen Wappen und mehr noch an dem schönen Antlitz des Hauses von Eorl. O würdiger Sohn Thengels, des Höchstberühmten! Warum seid Ihr nicht früher gekommen und als Freund? Sehr habe ich gewünscht, Euch zu sehen, den mächtigsten König der westlichen Lande, und besonders in diesen letzten Jahren, um Euch vor den unklugen und bösen Ratgebern zu bewahren, die Euch umgeben. Ist es schon zu spät? Trotz der Unbilden, die mir zugefügt worden sind, an denen die Menschen von Rohan leider einen gewissen Anteil gehabt haben, möchte ich Euch noch immer retten und vor dem Untergang bewahren, der unvermeidlich näher rückt, wenn Ihr auf dieser Straße weiterreitet, die Ihr eingeschlagen habt. Wahrlich, ich allein kann Euch jetzt helfen.«
Théoden machte den Mund auf, als ob er sprechen wollte, aber er sagte nichts. Er blickte hinauf zu Sarumans Gesicht mit den dunklen, ernsten Augen, die auf ihn gerichtet waren, und dann zu Gandalf an seiner Seite; und er schien zu zaudern. Gandalf gab kein Zeichen; er stand still wie Stein, wie einer, der geduldig auf eine Aufforderung wartet, die noch nicht ergangen ist. Die Reiter regten sich zuerst und murmelten beifällig zu Sarumans Worten; und dann waren auch sie still, wie Menschen unter einem Zauberbann.
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