Der Herr der Ringe
trennen wollen – weil sie Euch lieben.« Dann wandte sie sich ab und verschwand in der Nacht.
Als das Tageslicht den Himmel erhellte, aber die Sonne noch nicht über die hohen Grate im Osten gestiegen war, machte Aragorn sich bereit zum Aufbruch. Seine Schar war schon aufgesessen, und er wollte eben in den Sattel springen, als Frau Éowyn kam, um ihnen Lebewohl zu sagen. Sie war wie ein Reiter gekleidet und mit einem Schwert gegürtet. In der Hand trug sie einen Becher, und sie setzte ihn an die Lippen und trank ein wenig und wünschte ihnen guten Erfolg; dann gab sie Aragorn den Becher, und er trank und sagte: »Lebt wohl, Herrin von Rohan! Ich trinke auf das Glück Eures Hauses, auf Euer und Eures Volkes Glück. Sagt Eurem Bruder: Jenseits der Schatten mögen wir uns wiedertreffen!«
Dann schien es Gimli und Legolas, die nahebei saßen, dass sie weinte, und bei einer, die so streng und stolz war, war das umso schmerzlicher. Aber sie sagte: »Aragorn, willst du gehen?«
»Ja«, sagte er.
»Willst du mich dann nicht mitreiten lassen in dieser Schar, wie ich gebeten habe?«
»Das will ich nicht, Herrin«, sagte er. »Denn diese Bitte könnte ich nicht gewähren ohne die Erlaubnis des Königs und Eures Bruders, und vor morgen werden sie nicht zurückkehren. Aber ich zähle jetzt jede Stunde, ja sogar jede Minute. Lebt wohl!«
Dann fiel sie auf die Knie und sagte: »Ich bitte dich.«
»Nein, Herrin«, sagte er, nahm sie bei der Hand und hob sie auf. Dann küsste er ihr die Hand, sprang in den Sattel und ritt davon und schaute nicht zurück; und nur diejenigen, die ihn gut kannten und nahe bei ihm waren, sahen den Schmerz, den er litt.
Doch Éowyn stand still wie eine in Stein gehauene Gestalt, die Hände an die Seiten gepresst, und sie schaute ihnen nach, bis sie in den Schatten unter dem schwarzen Dwimorberg, dem Geisterberg, kamen, in dem das Tor der Toten ist. Als sie ihrem Blick entschwunden waren, wandte sie sich um, taumelnd wie eine Blinde, und ging zurück zu ihrer Unterkunft. Doch keiner von ihrem Volk sah diesen Abschied, denn alle verbargen sich vor Angst und kamen nicht heraus, ehe es heller Tag war und die tollkühnen Fremden fort waren.
Und einige sagten: »Es sind elbische Geister. Lasst sie dorthin gehen, wo sie hingehören, in finstere Gegenden, und niemals zurückkehren. Die Zeiten sind schlimm genug.«
Das Tageslicht war noch grau, als sie ritten, denn die Sonne war noch nicht über die schwarzen Grate des Geisterbergs geklommen. Ein Entsetzen befiel sie, als sie zwischen Reihen alter Steine hindurch zum Dimholt kamen. Dort unter der Düsternis schwarzer Bäume, die nicht einmal Legolas lange ertragen konnte, fanden sie eine Senke, die sich zum Fuß des Berges hin öffnete, und mitten auf ihrem Pfad stand ein einzelner, mächtiger Stein wie ein Finger des Todes.
»Mir stockt das Blut«, sagte Gimli, aber die anderen schwiegen, und seine Stimme erstarb auf den feuchten Tannennadeln zu seinen Füßen. Die Pferde wollten nicht an dem drohenden Stein vorbeigehen, bis die Reiter absaßen und sie führten. Und so kamen sie endlich tief hinein in die Schlucht; und dort erhob sich eine jähe Felswand, und in der Wand gähnte vor ihnen das Dunkle Tor wie der Schlund der Nacht. Zeichen und Gestalten waren über seiner breiten Wölbung eingemeißelt, die zu undeutlich waren, um sie zu deuten, und Schrecken entströmte ihm wie ein grauer Dunst.
Die Schar hielt an, und es gab kein Herz unter ihnen, das nicht erzitterte, es sei denn das Herz von Legolas dem Elben, für den die Gespenster der Menschen keinen Schrecken bargen.
»Das ist ein übles Tor«, sagte Halbarad, »und mein Tod liegt jenseits von ihm. Dennoch will ich wagen, es zu durchschreiten; aber kein Pferd wird hineingehen.«
»Doch wir müssen hinein, und deshalb müssen auch die Pferde gehen«, sagte Aragorn. »Denn wenn wir je durch diese Dunkelheit kommen, liegen jenseits viele Meilen, und jede Stunde, die verloren wird, wird Saurons Sieg näher bringen. Folgt mir!«
Dann ging Aragorn voran, und so groß war die Stärke seines Willens in dieser Stunde, dass alle Dúnedain und ihre Pferde ihm folgten. Und so sehr liebten die Pferde der Waldläufer ihre Reiter, dass sie bereit waren, selbst dem Schrecken des Tors ins Auge zu sehen, wenn die Herzen ihrer Herren, die neben ihnen gingen, standhaft waren. Doch Arod, das Pferd aus Rohan, verweigerte den Weg, und es stand schwitzend und vor Angst zitternd da, was schmerzlich anzusehen war.
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