Der Herr der Tränen: Roman (German Edition)
gefangen gehalten zu werden, hatte inzwischen ihren Reiz verloren, und er wurde unruhig. Er hatte begonnen zu raten, wem die verschiedenen Knochen gehören mochten, die in der Zelle verstreut lagen. Manche waren so alt, dass sie vielleicht Menschen gehört hatten, die Forger hier selbst eingesperrt hatte.
Eine Schabe krabbelte über den schmierigen Boden, und seine Hand fuhr nach unten und wölbte sich über das Insekt. In aller Seelenruhe zupfte er dem Tier die Beine aus und nährte sich von den kleinen Schmerzhäppchen. Das war das Gute an solcher Quälerei: Die Größe des Opfers spielte keine Rolle. Schmerz war schlicht und einfach Schmerz.
»Allerdings«, flüsterte Forger dem in Panik geratenen Käfer zu, »den größten Schmerz empfinden intelligente Wesen, denn sie verstehen, was man ihnen antut. Sie können auch seelische Qualen leiden.«
Er rieb Daumen und Zeigefinger aneinander und zerdrückte der Schabe den Kopf.
Vor der Reihe von Zellen, deren einziger Insasse er selbst war, lag ein offener Bereich, wo der Folterknecht von Tallaho seiner Arbeit nachging. Der Mann hieß Yoj, und sein Opfer war ein Adliger namens Artanon. Artanon wurde verdächtigt, sich an einer Verschwörung beteiligt zu haben, was ihm den Zorn Elacins, der Herrscherin, eingetragen hatte. Er war mit Riemen an einen eisernen Stuhl gefesselt, und über seine Arme verteilten sich hundert winzige Schnitte. Sein Gesicht war zugeschwollen und geschunden, seine Fingernägel waren verbrannt.
»Ich … weiß nichts«, murmelte er, fast nur ein Lallen, als der Folterknecht eine Eisenstange holte und in die Glut des Feuers legte.
»Threver behauptet, vielleicht doch«, entgegnete Yoj.
»Vielleicht? Vielleicht!«, jammerte Artanon. »Das ist kein Grund für solche Behandlung!« Sein Klagen endete in schrillen Schreien, als heißes Eisen seine Haut berührte.
Forger schaute neugierig zu. Es war unwiderstehlich, einem anderen Peiniger bei der Arbeit zuzusehen. Zwar konnte er daraus keinen Nutzen ziehen, weil er nicht Quelle der Qualen war, trotzdem musste er die Kunstfertigkeit anerkennen. Yoj ging mit Methode und ohne Leidenschaft zu Werke, herausragende Eigenschaften jedes Folterknechts, der etwas taugte.
»Und man kann ihnen Salz in die Wunden reiben«, erklärte Forger der toten Schabe, bevor er sie wegschnippte und sich die Finger abwischte.
Es war Zeit, etwas zu unternehmen. Soweit er sagen konnte, gab es außer Yoj keine anderen Wachen, und die Fadenwirker, die ihn hergebracht hatten, waren nicht wieder aufgetaucht.
Artanon wurde ohnmächtig, und Yoj seufzte leise.
»Bin ich jetzt an der Reihe?«, rief Forger. Er erhob sich und trat aus der Dunkelheit seiner Zelle zum Gitter.
Yoj sah ihn mürrisch an. »Du bist bloß verrückt«, sagte er. »Das sieht doch jeder.«
»Aha! Und was ist Verrücktheit? Nur eine andere Art zu denken? Nach wessen Maßstäben« – Forger strich mit der Hand durch die Luft wie über einen unsichtbaren Tisch – »soll ich beurteilt werden?«
Yoj beachtete ihn nicht und steckte das Eisen ins Wasser. Zischend stieg Dampf auf.
»Die Fadenwirker, die mich hergebracht haben«, sagte Forger, »schienen zu denken, ich könnte etwas wissen. Und ich weiß etwas!«
»Sei einfach still, dann bleiben dir vielleicht Schmerzen erspart.«
»Das ist leider beides nicht möglich. Wenn du an meiner Stelle wärest, würdest du mich verstehen.« Er ging an den Gitterstäben entlang und schlug mit einem alten Schienbeinknochen dagegen.
»Hör auf!«, sagte Yoj.
»Sag mir«, verlangte Forger, der weiter gegen die Stangen schlug, »ist das Lazarett noch an derselben Stelle?«
»Du kommst aus dem Lazarett, was? Das wundert mich nicht.«
»Ist es noch an der gleichen Stelle?«, wiederholte Forger.
»An der gleichen Stelle wie wann?«, hakte Yoj verärgert nach.
»An der gleichen Stelle wie früher.«
»Hör zu, sie bringen dich nicht ins Lazarett. Gleich kommt jemand und untersucht deinen Verstand. Der wird dir Fragen stellen.«
»Warum nicht du? Dir scheint das Fragenstellen zu liegen.«
»Du hast mir doch gar nichts zu verraten.«
»Woher weißt du das?«
»Weil nur ein Verrückter einen Folterknecht ärgern würde.«
»Soviel du weißt«, sagte Forger. »Zufällig werde ich schon sehr bald Elacin von ihrem Thron stoßen und sie dazu zwingen, mir mit der Zunge den Dreck unter den Zehennägeln wegzulecken.«
Yoj, der sich gerade die Hände abwischte, legte das Tuch zur Seite und drehte sich langsam um.
Forger
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