Der Herr der Tränen
Biers schon ganz überwunden zu haben. Wächter, wirklich, dachte er, verärgert über den Traum. Diese Bezeichnung hatte ihre ursprüngliche Bedeutung restlos verloren; heutzutage war sie gleichbedeutend mit Hass auf und Furcht vor seinesgleichen. Den Despirrow, der Braston geduldig Rat gegeben und seine eigenen Begierden nach Belieben zum Schweigen gebracht hatte, gab es schon lange nicht mehr. Wenn er jetzt an ihn dachte, war es so, als versuchte er, sich an die Details seiner Kindheit zu erinnern – eine Handvoll zusammenhangloser Bilder, einige vage Eindrücke und nicht viel sonst.
Er wollte Wasser, und zwar dringend. Vor seinem inneren Auge sah er die kristallklaren Fluten des Flusses Lumin, die fröhlich gurgelnd unter der Brücke nach Saphura dahinströmten.
Verdammt. Ich muss aus diesem Nirgendwo verschwinden.
Er stand auf und verbannte mit einer Drehung des Handgelenks allen Schmutz von seinen Kleidern und seiner Haut. Er versuchte, sich darauf zu besinnen, wo er war – irgendwo zwischen dem Tempel der Stürme und Althala, selbst zu Fuß nicht allzu weit von Saphura entfernt –, und zwang sich, die mentale Vorbereitung für den Fadengang zu durchlaufen. Einige Minuten später war er unterwegs; die heißen Felder verblassten hinter ihm, während seine Fäden ihrer Wiedervereinigung in der Ferne zustrebten.
Ihm war übel, als er aus der Luft auf einen Pfad trat, der von Bäumen und wächsernen Farnen gesäumt wurde. Ein schneller Blick rundum zeigte ihm, dass niemand da war, der seine Ankunft hätte bemerken können. Das war gut, denn ihm war nicht danach, sich durch irgendwelche Morde aufhalten zu lassen. Vor ihm führte eine Hängebrücke über den Lumin, der sich hier eine etwa zwanzig Klafter tiefe Schlucht geschaffen hatte. Die Brücke schwang unter seinen Füßen leicht hin und her, und er genoss die Kühle, die von unten kam. Auf der anderen Seite führte der Pfad weiter und verschwand hinter einem kleinen Hügel, in dessen Flanke der Eingang zu einer Höhle klaffte, an die er sich nicht erinnern konnte.
Während er darauf zuging, sah er etwas Seltsames. Vor dem Höhleneingang war der Grund steinig, aber bar jeder Vegetation. Dort erzitterten plötzlich viele der losen Steine und Felsbrocken, als würde unter ihnen etwas an die Erdoberfläche drängen. Und plötzlich hoben sie sich, schwebten hinauf, immer höher und höher. Er beobachtete sie, bis es nur noch ferne Punkte am Himmel waren.
Dann wurde alles wieder ruhig.
Die Große Magie ist krank, dachte er.
Er wusste, dass es zum Teil seine Schuld war – er war verdorben. Das war es, was seinen Feinden das Recht gab, ihn zu jagen – einmal von dem einfachen Wunsch abgesehen, einen Bösewicht aufzuhalten. Despirrow wusste, was er war und wozu er geworden war, aber es bekümmerte ihn nicht – er genoss es, so zu sein. Und selbst wenn die Welt sich in einzelne Fäden entflocht, wollte er verdammt sein, wenn er nicht auch das genießen würde, solange er konnte.
Seine Unternehmungslust stieg, während er sich Saphura näherte. Er würde den Honig aus der Stadt pressen. Er folgte dem Pfad um den Hügel herum und den Hang hinunter. Entlang des Lumin lächelten ihn blau gekachelte Gebäude an. Weiße Gischt schäumte an den steinernen Molen, die in den Strom ragten, und um die tapferen kleinen Boote, die dort festgemacht waren.
Es war eine Erleichterung für Despirrow, einen so vertrauten Ort zu sehen, einen Ort, für den er sich eine Anhänglichkeit bewahrt hatte. Er hatte sich hier wohlgefühlt.
War das vor der Verwandlung gewesen oder danach?
Er runzelte die Stirn, nicht ganz sicher. Vielleicht beides.
Mit einem Achselzucken und beschwingten Schrittes erreichte er den Stadtrand. Dort ließ ihn ein Bild wie angewurzelt stehen bleiben.
»Ah«, sagte er.
Ein wenig abseits des Weges, jenseits einer Wiese und zwischen einigen Baumgruppen hatten sich bunt gewandete Einheimische um eine improvisierte Bühne versammelt. Darauf stand eine schöne junge Frau in einem wallenden, grünen Kleid, und der Bräutigam neben ihr strahlte sich fast seine närrischen Augen aus dem Kopf. Zwischen ihnen stand ein weiß gewandeter Priester, der die Blitzinsignien trug, lauschte, wie sie ihre Gelübde sprachen, und ließ um sie herum ein munteres Lüftchen pfeifen.
Meine Schwäche, mein Vergnügen.
Wenn er einem nur schwer widerstehen konnte, dann war es solch eine Hochzeit. Die Braut vor den Augen ihrer Freunde und Verwandten zu nehmen – sie vor den
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