Der Herr der Unruhe
Du bist ganz anders als meine fünf Brüder.«
»Ja, ich bin ein Jude.«
»Soll ich dich dafür etwa verachten? Der heilige Petrus sagt: ›Ehret Menschen von allen Arten.‹ Ich glaube nicht, dass er dabei Juden aussparen wollte.«
»Kaum denkbar. Er war ja selbst einer.«
Beide lachten. Nico empfand große Erleichterung, als sie endlich vor einer großen Tür stehen blieben; seine Beine fühlten sich wie weiches Wachs an. Offenbar hatte er seine Kräfte überschätzt. Von Lorenzo wusste er nur, dass er zwei Päpsten als Berater gedient hatte, aber was so ein we i ser Mönch tat, wenn er nicht gerade neben seinem Oberhi r ten stand und ihm weltbewegende Dinge ins Ohr flüsterte, entzog sich seiner Vorstellungskraft.
Nachdem Adrian den Besucher gemeldet hatte, durfte N i co eintreten. Der Gardist bezog auf dem Flur Posten. L o renzo empfing seinen jungen Freund mit ausgebreiteten Armen, führte ihn zu einem bequemen Stuhl mit Armle h nen und goss ihm aus einer bereitstehenden Kanne eine Tasse Kaffee ein.
»Du bist noch etwas blass um die Nase, aber für einen moriturus siehst du schon wieder ganz gut aus.«
»Bedeutet das nicht ›Todgeweihter‹?«
»Inzwischen kann ich darüber lachen, aber als ich mit dem Papst an deinem Krankenbett stand und mir bewusst wurde, dass meine unbedachte Äußerung dir buchstäblich einen Mordsschrecken eingejagt haben muss, da ist mir richtig übel geworden. Entschuldige noch mal.«
»Schon vergessen. Auf dem Weg hierher habe ich mich übrigens über die Hektik auf den Gängen und Fluren g e wundert. Gibt es dafür einen bestimmten Grund?«
»Heute ist der 21. Dezember, mein Freund. In drei Tagen fängt das Weihnachtsbrimborium an.«
»Du bist ein komischer Mönch, weißt du? Wir Juden fe i ern kein Weihnachten. Würde ich so reden wie du, dann wäre das ja noch verständlich.«
»Das ist es ja! Irgendjemand in der Kurie scheint die A n sicht zu vertreten, dass man sich die Herzen der neuen ›Einwanderer‹ mit Tannenbäumen erschließen kann, anstatt ihnen ein friedliches Chanukka zu ermöglichen.«
»Wahrscheinlich hält man den Aufwand für übertrieben bei den paar Jarmulketrägern, die hier herumlaufen.«
»Immerhin haben wir in der Città ein paar hundert Ve r folgte untergebracht. Aber du solltest mal nach Castel Ga n dolfo kommen, da verstecken sich so um die achttausend, die meisten davon sind Juden.«
»Ich hörte, den Oberrabbiner hat die SS bis heute nicht bekommen?«
»Nein. Himmler kann sich mit den einhunderttausend L i re, die er auf den Kopf von Professor Zolli ausgesetzt hat, ein Erste-Klasse-Billet in die Hölle kaufen.«
»Ich möchte dir für alles danken, Lorenzo.«
»Oh, bitte nicht, Nico! Ich habe vielleicht – mit deiner Hilfe, wohlgemerkt – einen kleinen Kiesel ins Rollen g e bracht, aber die Lawine der Hilfsbereitschaft besteht aus vielen Steinen. Ich bedaure zutiefst, dass der Heilige Stuhl sich erst so spät zu handfesten Maßnahmen durchringen konnte.«
» A propos Hilfe.« Nicos Blick schweifte zu der Rega l wand, die sich rechts von Lorenzos Eichenschreibtisch bis zur Decke zog. »Hast du ein Exemplar der Göttlichen K o mödie hier? Meins muss noch in Albinos Satteltasche st e cken.«
»Natürlich«, antwortete Lorenzo so selbstverständlich, als habe sein Besucher ihn nach der Bibel gefragt. Behände sprang er von seinem Sitz hoch, eilte zu dem Regal, griff zielsicher hinein und kehrte mit einem dünnen Büchlein – offensichtlich eine unkommentierte Ausgabe – zurück.
Nico nahm den braunen Ledereinband mit einem Nicken entgegen und begann sofort darin herumzublättern.
»Was suchst du?«, fragte der Mönch.
»Letzte Nacht hatte ich einen Traum. Eigentlich war es eine Erinnerung an ein Gespräch, das ich vor fast sechs Jahren mit meinem Meister in Wien geführt hatte. Er sagte da etwas, das mir den ganzen Morgen schon durch den Sinn geht. Gleich hab ich ‘s.«
»Sprichst du von dem Dante-Zitat, das dein Vater in Manzinis Lebensuhr geprägt hat?«
»Ja. Purgatorio, vierter Gesang, dritte Strophe.«
»Kennst du es nicht längst auswendig?«
»Selbstverständlich. Aber ich wollte es mit eigenen A u gen sehen. Und transparent werden lassen.«
»Bitte keinen Kaffee in das Buch schütten. Es ist fast hundertfünfzig Jahre alt.«
Nico sah verdutzt von den vergilbten Seiten auf. Inzw i schen hatte er die gesuchte Stelle gefunden.
Lorenzo grinste wie ein großer Junge, dem gerade ein f a moser Streich gelungen war. »Nur
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