Der Herr der Unruhe
sagte einmal, dass es für den Menschen darauf ankommt, die Dimensionen des Raumes und der Technik zu verlassen und in die innerliche Dimension der Zeit einzutreten. Für uns Uhrmacher eine höchst bemerkenswerte Erkenntnis, findest du nicht?«
Nico war sich nie ganz sicher, ob er die Gedankengänge seines Meisters ganz erfasste. »Willst du mir damit sagen, dass wir vom Ewigen, so wie einst das Manna, ein tägliches Maß se man – also Zeit – zugewiesen bekommen?«
Johan lächelte verschmitzt. »Ich möchte dich zu eigenen Schlussfolgerungen anstiften, was mir anscheinend gelu n gen ist. Wer ein Zuviel an Manna sammelte, gewann d a durch nicht das Geringste. Das Auflesen des himmlischen Brotes ist eine Tätigkeit gewesen, die wie jede andere nicht von der Zeit zu lösen ist. Wie wird es wohl dem Narren ergehen, der ihr in seinem Streben vorgreift, als ließe sich se man in Körben horten?«
»Er könnte verderblich handeln«, brummte Nico.
»Könnte?«
»Ich habe schon verstanden, was du sagen willst, Meister Johan.«
Der Uhrmacher tätschelte seinem Gesellen den Rücken. »Jetzt ziehe nicht so ein finsteres Gesicht, Niklas. Du bist für mich wie der Sohn, den Lea und ich nie gehabt haben. Ich möchte dir doch nur helfen.«
»Mit Rätseln über die Zeit?«
»Nein, mit Wegweisern in deine Zukunft. Ich stelle sie nur auf, aber welche Richtung du einschlägst, bleibt natü r lich deine Entscheidung.«
»Wenn es nur nicht so schwer wäre, die Zeichen richtig zu deuten!«
»Der erste Schritt zu einer guten Entscheidung ist die E r kenntnis, dass es überhaupt mehr als eine Deutung gibt. Wenn du mal wieder an einer Gabelung stehst, dann denke einfach an se man .«
18. KAPITEL
Der Störenfried
Rom, 1943 – 1944
Das tatenlose Herumliegen ging ihm allmählich auf die Nerven. Schwester Magdalena meinte, seine Unrast sei ein gutes Zeichen. Nico litt zwar immer noch an regelmäßig wiederkehrenden Fieberschüben, aber die Anfälle waren nicht mehr so heftig. Seine Zähigkeit sei außergewöhnlich, hatte Doktor Bartoletti vor einigen Tagen gesagt und sich dann zu der vorsichtigen Prognose hinreißen lassen, dass die Malaria völlig ausheilen könnte. Freilich müsse der e r staunliche Patient noch einige Monate mit Rückfällen rec h nen. Nico dachte gar nicht daran, sich zwei Jahre lang von Schüttelfrost und Fieber an die Vatikanstadt binden zu la s sen.
Magdalena wirkte sogar erleichtert, als er darum bat, Fra Lorenzo in seiner Amtsstube besuchen zu dürfen. Nicos Genörgel in letzter Zeit stellte ihre Geduld auf eine harte Probe. Der Rekonvaleszent wurde von einem Schweize r gardisten abgeholt, weil die neue Offenheit des Heiligen Stuhls gegenüber den Verfolgten sich nicht auf alle Räu m lichkeiten erstreckte. Nicos Ein-Mann-Eskorte war Adrian Isenring, jener junge, hoch aufgeschossene, braunhaarige Wachtmeister, der ihn am 16. Oktober hinter der verborg e nen Pforte in Empfang genommen hatte. Irgendwie fühlte sich Adrian seit diesem Tag für den Geretteten verantwor t lich und schaute in seiner dienstfreien Zeit immer mal wi e der im Krankenzimmer vorbei. Inzwischen waren neunei n halb Wochen vergangen, und die zwei waren Freunde g e worden.
»Manchmal kommt es mir vor wie ein Wink des Schic k sals«, sagte der aus dem Kanton Zug stammende Gardist.
»Was?« Kalter Schweiß stand auf Nicos Stirn. Sein B e gleiter lief viel zu schnell durch die hallenden Flure und Säle. In den Räumen herrschte eine überraschende Betrie b samkeit.
»Dass du den deutschen Häschern als Niklas Michel en t kommen bist. Einer der Schutzheiligen der Schweizergarde ist Niklaus von Flüe.«
»Ich habe eher den Eindruck, das genaue Gegenteil von einem Schutzheiligen zu sein. Mir fehlt schon fast der Mut, irgendjemanden gern zu haben, weil mich das Gefühl b e drängt, er müsste dann sterben.«
»Du hast Furchtbares durchgemacht, aber das war nicht deine Schuld, Nico. Mein Vater sagte immer: ›Ein Leben ohne Freunde ist wie ein Nachthimmel ohne Sterne.‹«
»Düster und leer«, murmelte Nico, fügte jedoch sofort lauter hinzu: »Was liegt dir an mir, Adrian?«
Der junge Wachtmeister hob die Schultern. »Weiß nicht. Ich kann Deutsch mit dir reden.«
»Haha! Wenn ich mich nicht irre, dann hast du noch ei n hundertundneun Kameraden, von denen die meisten ebe n falls Deutsch sprechen.«
»Du hast die sechs Offiziere vergessen.« Adrian grinste breit. »Ohne Scherz, Nico. Ich rede gerne mit dir.
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