Der Herr der Unruhe
die ganzen Namen nicht merken. Von dort we r den sie nach Osten deportiert, vor allem nach Auschwitz.«
Nico schmatzte, weil sich seine Zunge wie ein trockener Lederlappen anfühlte. »Was … bedeutet das?«
»Das ist ein Todeslager. Eigentlich sind es sogar mehrere. Lorenzo sagte, sie bringen die Menschen dort …« Wieder musste Davide erst schlucken, bevor er weiterreden konnte. »Sie töten unser Volk mit Gas, Nico. Die Schornsteine des Krematoriums sollen Tag und Nacht rauchen.«
»Das glaube ich nicht!«
»Dem Vatikan liegen zahlreiche Berichte von den Gräue l taten vor.«
»Und wieso hat der Papst dann nicht viel früher dagegen protestiert?«
»Aus Sorge um seine Schäfchen, aus diplomatischen E r wägungen – ich weiß es nicht. Die Tage stand übrigens ein Artikel im L’Osservatore Romano, in dem Papst Pius sich mit starken Worten gegen die Massenarretierung der Juden ausgesprochen hat.«
»Zu spät, Davide! Tausend der Unsrigen wurden wie Schlachtvieh zusammengetrieben. Ich hab es selbst ges e hen. Wo haben die Schweine nur unsere Namen her?«
»Der Oberrabbiner hatte die Ältesten gewarnt, aber sie wollten nicht auf ihn hören.«
»Was meinst du damit?«
»Fünf Tage vor der Verschleppung hat Kappler unsere wertvollsten Bücher, Handschriften, Pergamente und Papyri aus dem Archiv und der Bibliothek ausräumen lassen. Bei der Aktion sind ihm auch die Mitgliederlisten der Gemei n de in die Hände gefallen.«
»Hätten sie doch nur auf Professor Zolli gehört!«
»Ich zweifle, ob wir in dem Fall unbehelligt geblieben wären. Du selbst weißt ja am besten, wie lange Kappler und seine Helfershelfer schon unsere Vernichtung planen.«
»Aber Johan und Lea hätten vielleicht gerettet werden können. Ich habe an dem Morgen der Razzia in Nettuno das Gesicht des Mannes wiedererkannt, der sie Ende September in der Via Dandolo bespitzelt hatte. Mir fällt nur ein Grund ein, wieso der Kerl ausgerechnet vor der Festung aufg e taucht ist, in der ich zuvor die Nacht verbracht habe: Ma s similiano Manzini. Ich muss so schnell wie möglich nach Nettunia zurückkehren und diesem Ungeheuer endlich das Handwerk legen.«
»Mach keine Dummheiten, Junge. Schon Euripides schrieb: ›Die Zeit entlarvt den Bösen.‹«
»Wer, um alles in der Welt, ist Euripides?«
»Du kennst den griechischen Dichter nicht? Sein Hippolyt enthält Weisheiten, die in Zeiten wie diesen Hoffnung g e ben.«
»Kann er dir Salomia zurückgeben?«, entgegnete Nico trotzig.
Davide rang sichtlich um seine Fassung. Seine Antwort klang kühl: »Nein. Ihr Schicksal liegt jetzt in der Hand des Ewigen.«
Nico senkte den Blick. »Entschuldige. Ich wollte nicht …« Er spürte, wie die Hände des Goldschmieds sanft den Druck um seine Rechte verstärkten.
»Lass es gut sein, Junge. Auch mein Herz schmerzt, als hätten mir diese Teufel die Hälfte davon ausgerissen. Ich kann gut nachvollziehen, was du fühlst. Aber glaube mir, Rache ist nicht der richtige Weg. Wenn du den Ewigen drängst, wird er dir ausweichen. Manchmal gibt er dem, der am wenigsten erwartet, das kostbarste Geschenk. Zunächst musst du gesund werden. Es gibt wenig, das so wertvoll ist wie die Zeit, denn über sie zu verfügen bedeutet zu leben.«
17. KAPITEL
Der Thora-Schüler
Wien, 1938
Johan Mezei schloss den oberen Knopf des Mantels. Sein Atem trieb in weißen Wölkchen auf den Fluss hinaus. Der Frühling hatte den Kampf gegen den Winter noch nicht aufgenommen.
»Vielleicht wird das Jahr 1938 ein Wendepunkt in der Technikgeschichte, Niklas. Jedenfalls hat Konrad Fleisc h hauer eine Cousine in England, und die hat ihm letztens einen komischen Brief geschrieben.«
Nico schleuderte einen weiteren Stein in die träge dahi n fließende Donau und zählte die Anzahl der Hüpfer. Vier! »Was?«
»Du hörst mir gar nicht zu. T. Ross – keine Ahnung, w o für das ›T‹ steht –, also der ist ein Ingenieur aus den Vere i nigten Staaten und hat eine Maschine entwickelt, die ange b lich aus Erfahrungen lernen kann. Unglaublich, was!«
»Der hat ja eine Ahnung.«
Johan lachte. »Ich erinnere mich noch genau, wie du d a mals vor mir standest – ein dürrer Naseweis mit strubbel i gem Haar – und mir erzähltest, aus welchem Grund die Spiralfeder meiner Lebensuhr gebrochenen ist. Aber nicht alle Menschen sind so wie du, Junge.«
Nico bückte sich nach einem neuen Stein. »Das stimmt. Nicht jeder muss mit ansehen, wie sein Vater ermordet wird.«
Der
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