Der Herr der Unruhe
»Kisten« aus Sper r holz, die den Faschisten ursprünglich als Unterstände zur Bewachung der Küste hatten dienen sollen, die sich nun aber im Campana-Pinienwald reihten. Ein paar Bäcker, der Barbier und wenige andere Einwohner der Stadt hatten bleiben dürfen, um das leibliche Wohl der deutschen Posten sicherzustellen. Und dann gab es noch die Unterirdischen.
Nico traf einen Tag nach dem Gespräch mit Vittorio A b bado in der Stadt ein. Es war der Abend des 2. Januar, ein Sonntag. Sein Motorrad hatte er im Park der Villa Borghese versteckt. Obwohl die Straßen, Plätze und Gassen wie leer gefegt waren, zweifelte er nicht daran, dass hinter den Fen s tern irgendwo deutsche Späher lauerten. Vielleicht sogar Scharfschützen? Vom Kriegshandwerk verstand er nichts, aber er konnte hören, wie die Front näher rückte. Vom O s ten, wo die Lepini-Berge lagen, hallten die lang gezogenen Echos der Bombardierungen herüber.
Wäre es nach Doktor Bartoletti, dem vatikanischen Arzt, gegangen, dann läge er immer noch in einem vatikanischen Bett, gefesselt an ein vatikanisches Rohrgestell. »Sie sind noch längst nicht wieder bei Kräften. Es wird Rückschläge geben, das kann ich ihnen voraussagen.« Der erste Teil se i ner Prophezeiung traf bereits ein. Nico fühlte sich ausg e pumpt wie schon lange nicht mehr.
Er überlegte, ob er nicht doch lieber erst zum Torre Ast u ra hätte fahren sollen. In seiner Tasche steckte ein Dok u ment des vatikanischen Kurienamtes für außerterritoriale Liegenschaften, unterzeichnet von Ugo Buitoni, der schon Johan und Lea Mezei Unterschlupf gewährt hatte und w e gen ihres Schicksals untröstlich gewesen war. »Ich kann Ihnen allerdings den Schlüssel nicht geben«, hatte der B e amte gesagt und sich über Nicos Antwort ein wenig g e wundert: »Das macht nichts. Ich freunde mich gerne mit fremden Schlössern an.«
Jetzt schlich er also durch die ausgestorbenen Gassen und wünschte sich, es wäre schon ein wenig dunkler. Er wollte sein Versteck südlich von Nettuno nicht beziehen, bevor er etwas herausgefunden hatte, das für seine weiteren Pläne sehr wichtig war. Dazu musste er ungesehen ins Herz der mittelalterlichen Stadt gelangen.
Etwa eine Stunde nach Sonnenuntergang erreichte er die Piazza Battisti. Im Schutze der nun endlich eingekehrten Dunkelheit überredete er das Schloss im Hauptportal der Stiftskirche zur Kooperation. Gerne hätte er einen der drei Nebeneingänge gewählt, aber man hatte – wohl zum Schutz des Gotteshauses vor Einschlägen – alle Türen und Fenster mit Brettern zugenagelt. Dem gelben Lichtkegel einer Handlampe folgend, drang er über die Krypta in die Höhlen ein. Ein Stück Kreide sollte ihn davor bewahren, die Orie n tierung zu verlieren, wie es seinerzeit Donatello, dem Kammerdiener des verstorbenen Barons, ergangen war.
Nun schlich Nico allein durch die stille, kühle Finsternis. Die schmale Nische, die den Durchlass zur Grabkammer verbarg, lag noch nicht lange hinter ihm, als ihn aus der Dunkelheit plötzlich kräftige Hände am Kragen packten.
»Wer bist du?«
»Niklas Michel?« Die Antwort war als erstes Verhan d lungsangebot gedacht. Andere Namen konnte er immer noch nachschieben. Aber das war nicht nötig. Die Hände ließen ihn augenblicklich los.
»Der Walzenbändiger?«
Nico drehte sich um und leuchtete in das kantige Gesicht eines nicht sehr schmächtigen Mannes, das ihm gut bekannt war. »Der Böttcher?«
In Friedenszeiten baute Flavio Salvini Fässer, ein in Ne t tuno traditionelles Handwerk. Im Augenblick bewachte er den Platz der Getreidebrunnen, vielmehr das, was davon im Gestein unter den Häusern noch übrig war. Sein vorspri n gendes Kinn und die wulstigen Augenbrauen, verliehen ihm ein hinreichend abschreckendes Aussehen.
Salvini führte den Besucher in den großen, von Kerzen e r leuchteten Hauptraum, wo Nico von mehreren Dutzend Männern und Frauen empfangen wurde.
»Die Deutschen wollten uns vertreiben, aber Nettuno ist unser Zuhause«, begründete der Böttcher die unterirdische Kolonie.
»Sind der ehemalige Leibdiener von Don Alberto und Signora Pallotta auch hier?«
»Schon lange nicht mehr«, sagte eine Frau, die Nico nicht kannte. Sie schob sich zwischen zwei Männern hindurch nach vorn. »Donatello und Emma haben sich im November zu Verwandten in die Castelli aufgemacht. Wir sind die Letzten, die hier ausharren, bis die Alliierten kommen, Don Niklas.«
»Bitte nennen Sie mich nicht so«, erwiderte er. »Erstens
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