Der Herr der Unruhe
ein Scherz. Was siehst du?«
Nico erstarrte, als er die letzte Zeile des besagten Verses las.
vassene il tempo e l’uom non se n’avvede
In seinem Kopf wurde ein Schleier fortgeweht, unter dem er bereits Konturen erahnt hatte, die jetzt unvermittelt en t hüllt wurden. Ihm stockte der Atem. Sein Finger legte sich auf ein einzelnes Wort. »Das gibt es nicht!«
»Hast du etwas gefunden?«
»›Die Zeit geht hin, und der Mensch gewahrt es nicht‹«, murmelte Nico, als könne nur sein Ohr die Echtheit der Entdeckung prüfen.
Lorenzo erhob sich, um neben seinen Freund zu treten und die betreffenden Worte selbst zu lesen. Er schüttelte den Kopf. »Ja, und?«
Nico wandte ihm das Gesicht zu. Er sah aus, als hätte er gerade eine unfassliche Vision erblickt. »Es … es war die ganze Zeit da«, stammelte er, »und ich habe es nicht ges e hen.«
Am 1. Januar 1944 war allenfalls den Deutschen und i h ren Parteigängern zum Feiern zumute. Als Vittorio Abbado seinen Gast empfing, wirkte er fahrig, so als könnten ihm durch das Scherengitter des Fahrstuhls jeden Augenblick braune Ungeheuer an die Kehle springen. Aber es war nur Nico, der vor der Wohnungstür im vierten Stock des eh r würdigen Hauses am Lungotevere Michelangelo stand.
»Kommen Sie schnell herein«, sagte die rechte Hand j e nes Staatsanwaltes, der den berüchtigten Fürsten Tringali Casanova abgelöst hatte und inzwischen selbst seines Amt enthoben war.
Nico trat in die Wohnung. Eine hohe Tür glitt leise hinter ihm ins Schloss. »Es tut mir Leid, dass man Sie in die R e gistratur verbannt hat, Signor Abbado.«
»Besser in den Keller des Justizpalastes als in den der deutschen Sektion von Regina Coeli .« Der Beamte bemer k te den verständnislosen Ausdruck auf Nicos Gesicht und fügte erklärend hinzu. »Wenn die Besatzer der Stadt den Drang verspüren, jemanden zu foltern, dann bringen sie ihn in dieses Gefängnis. Mich hat man zum Glück nur für einen unbedeutenden Aktenentstauber gehalten, deshalb durfte ich bleiben.«
»Womit wir beim Thema wären. Haben Sie die Gericht s protokolle ausfindig machen können?«
»Ja. Und Sie hatten Recht. Beide Male taucht derselbe Name auf.«
»Das heißt, Giacomo Matteotti wurde, wie ich vermutet hatte, vor dem Mord schon einmal tätlich angegriffen?«
»Sie sagen es. Leider konnte ich die Protokolle nicht mi t bringen, aber ich habe aus dem Gedächtnis ein paar Notizen für Sie angefertigt.«
»Angeblich wurde der Täter nie gefunden.«
»Das ist richtig. Der Generalsekretär der Sozialistischen Partei wurde am 10. Juni 1924 in ein Auto gezerrt und a n schließend erschossen aufgefunden. Noch am selben Tag nahm die Polizei einen Verdächtigen fest, ließ ihn aber sp ä ter wieder laufen. Als das Gerücht laut wurde, der Duce habe persönlich die Liquidation seines unbequemen Riv a len befohlen, befleißigte er sich zu einer vehementen Veru r teilung des Verbrechens. Damit war die Sache im Wesentl i chen vom Tisch. Zwar sind die Abgeordneten der Opposit i on mit Ausnahme einiger Liberaler und Kommunisten aus der Kammer auf dem Aventin ausgezogen, aber letztendlich brachte die Krise nur einen Sieger hervor: Benito Mussol i ni.«
Nico blickte mit glasigen Augen auf den Briefumschlag, den Abbado ihm hinhielt, und murmelte: »›Du bist nicht schlecht dabei gefahren, Benito. Diesmal wird es genauso sein.‹«
»Wie bitte?«
»Nichts. Ich habe mich nur gerade an etwas erinnert, das mir ein Freund erzählte.«
»Ach so. Hören Sie, Signor dei Rossi. Wenn es ihnen nichts ausmacht …«
»Ja, ja, Signor Abbado. Ich verschwinde wieder – so leise und unauffällig, wie ich gekommen bin. Noch einmal vi e len Dank. Sie haben mir sehr geholfen.«
»Gerne. Vielleicht kann ich auf diese Weise ein wenig wettmachen, dass ich in all den Jahren zu feige war, um mich offen gegen die Diktatoren zu stellen, die unser Land in einen Scherbenhaufen verwandelt haben.«
Nico winkte mit dem Kuvert. »Ich finde, in den letzten Tagen haben Sie viel Mut bewiesen.«
Abbado lächelte verlegen. »Danke. Es könnte sich lohnen. Wenn sich Ihr Verdacht bestätigt, dann wäre das eine Se n sation.«
Nettunia war zu einer Geisterstadt geworden. Die Weh r macht hatte die Menschen erst einen und wenig später sogar fünf Kilometer von der Küste weg ins Landesinnere getri e ben. Tausende von Menschen hausten unter erbärmlichen Verhältnissen zusammengepfercht in Bauernhäusern, Scheunen, Ställen oder in übergroßen
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