Der Herr der Unruhe
alte Uhrmacher verdrehte die Augen zum grauen Himmel und fiel dabei fast hintenüber. »Geht das jetzt wi e der los!«
»Was soll ich denn machen?«, jammerte Nico. »Ich habe Albträume. Ständig sehe ich Manzinis Bild vor mir. Warum lässt mich der Herr keine Ruhe finden? Ich glaube, das ist ein Zeichen. Er will, dass ich den Mord an meinem Vater räche.«
Johan Mezei schürzte die Lippen, und sein Schnurrbart sträubte sich wie bei einem Walross. Man konnte zusehen, wie das Räderwerk in seinem Kopf arbeitete. »Weißt du, was eine der größten Schwächen von uns Menschen ist, Niklas?«
Der Gefragte zuckte die Achseln.
»Wenn es uns gut geht, dann nehmen wir das für selbs t verständlich, aber wenn wir leiden müssen, dann machen wir den Ewigen dafür verantwortlich. Wer hat denn deinen Vater umgebracht? War es Gott?«
»Natürlich nicht. Aber er hätte es verhindern können.«
»Sicher hätte er das. Wir lassen ihn die Drecksarbeit erl e digen und fühlen uns danach ganz groß, weil wir glauben, alles im Griff zu haben. Kannst du dich noch erinnern, was die Schlange im Garten Eden zu Eva sagte?«
»Sie solle von der Frucht essen.«
»Unter anderem. Sie säuselte: ›Schnapp dir das süße Ding, denn du wirst nicht sterben, wie der Ewige behauptet hat. Er hat nur Angst, dass ihr Menschen wie er werdet, dass euch die Augen geöffnet werden und ihr plötzlich zw i schen Gut und Böse unterscheiden könnt.‹ Alle Engel im Himmel hielten sich vor Schreck die Hand vor den Mund und dachten: ›Kann das wahr sein?‹«
»So habe ich das noch nie im Bereschit gelesen.«
»Mag sein. Muss wohl an Leas Einfluss liegen, wenn ich es etwas ausgeschmückt habe. Aber wenn du drüber nac h denkst, kann es nicht viel anders gewesen sein. Der Wide r sacher, der hinter der Schlange stand, wollte den Menschen weismachen, sie könnten ihre Geschicke ohne Gott lenken. Um ihnen das Gegenteil zu beweisen, muss der Ewige sie Fehler machen lassen.«
»Und deshalb nimmt er Kindern die Eltern weg?«
»Selbst wenn es so wäre – Hiob sagte einmal: ›Sollen wir nur das Gute vom Ewigen nehmen und nicht auch das, was von Übel ist?‹ Er wusste nicht, dass der Widersacher ihn prüfte. Nicht der Herr hat deinen Vater ermordet, Niklas, nicht einmal ein Asmodi oder ein anderer Dämon, sondern nur ein böser Mensch.«
»Der seine Strafe verdient. Deshalb sendet mir der Ewige die Traumzeichen.«
Johan seufzte leise. »Welche Vorstellung verbindest du mit dem Wort mannah ?«
Die Gedankensprünge des Meisters waren bisweilen sehr überraschend. Nico blickte von dem flachen Stein auf, den er eben noch in der Hand gewogen hatte. »Als das Volk Israel das Brot vom Himmel zum ersten Mal sah, rief es: ›Was ist das?‹, oder auf Hebräisch: ›Man hu’?‹ So bekam die Speise, für die der Ewige während ihrer vierzigjährigen Wüstenwanderung sorgte, den Namen Manna.«
Johan nickte lächelnd. »Du hast in den letzten sechs Ja h ren viel dazugelernt. Man kann – um deine Worte zu benu t zen – die ›Zeichen‹ in dieser Weise lesen, manchmal ve r birgt sich in den Schriftzeichen aber noch eine ganz andere, eine tiefere Bedeutung.«
»Du meinst, wenn man sie umschaufelt wie die Kabb a listen?«
»Nein, das ist in diesem Fall nicht nötig. Du musst nur das scheinbar Offensichtliche transparent machen, um das Hintergründige zu erkennen. Worauf ich hinauswill, ist Folgendes: Das hebräische Wort für Manna lautet se man, was übersetzt ›die Zeit‹ bedeutet.«
»Oh! Das muss mir entfallen sein. Ich kann mir schon denken, was du sagen willst: Ich bin zu ungeduldig.«
»Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung. Eine andere Frage: Was ist mit dem Manna geschehen, wenn einer ve r sucht hat, mehr zu sammeln, als er für einen Tag zur Speise brauchte?«
»Es ist verfault.«
»Genau. Es war völlig ungenießbar, eine stinkende Ma s se.«
»Außer vor einem Schabbat. Da durfte die doppelte T a gesration aufgelesen werden.«
»Was ein weiteres Wunder war. Sehr richtig, Niklas. W a rum hat der Ewige das Manna nicht ein bisschen haltbarer gemacht?«
»Hm. Vielleicht um sich seinem Volk jeden Tag aufs Neue als Lebengeber und -erhalter ins Gedächtnis zu r u fen?«
»Gute Antwort, Thora-Schüler Niklas! Man könnte auch sagen, damit nicht der Mensch wie an den sechs übrigen Tagen der Woche die Zeit besitze, sondern sie ihn. Am Schabbat findet er Muße zur Einkehr, zur Begegnung mit seinen Lieben, zum Studium. Abraham Joshua Heschel
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