Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
Christ, und ich bin ein Jude. Wir haben doch e u ren Heiland ans Kreuz genagelt.«
    Der Benediktiner tauchte seine Hand in den Brunnen, hob sie wieder heraus und betrachtete scheinbar gedanke n versunken das davon abtropfende Wasser. Dann sagte er leise, ohne den Jungen anzusehen: »Du klingst verbittert. Offen gestanden, kann ich dich sogar verstehen. Bitte e r laube mir eine Frage, Nico. Hast du dir je darüber Geda n ken gemacht, warum Jesus auf Bildern und an Kruzifixen immer ein Tuch um die Lenden trägt?«
    »Weiß ich doch nicht«, brummte der Junge. Er vermutete eine Fangtrage. Verstohlen blickte er zu den Figuren, die auf künstlichen Felsen im Brunnen turnten. Sie waren au s nahmslos nackt, aber an den vor dreihundert Jahren wohl als peinlich empfundenen Stellen trotzdem immer irgen d wie bedeckt.
    »Der Grund ist nicht etwa Schamhaftigkeit und schon gar nicht das Bemühen um historische Genauigkeit«, fuhr L o renzo Di Marco fort. »Die Römer gingen mit Todgewei h ten, die keine Bürger des Imperiums waren, nicht sonde r lich zimperlich um. Wahrscheinlich war Jesus nackt, als man ihn ans Holz nagelte.«
    Endlich hatte Lorenzo Di Marco das Interesse des Jungen geweckt. »Aber aus welchem Grund haben die Künstler eurem Heiland dann das Lendentuch umgeschlungen?«
    »Weil er ein Jude war.«
    »Ich verstehe nicht …«
    »Lukas, Kapitel 2, Vers 21: ›Als acht Tage vorüber waren und das Kind beschnitten werden musste, gab man ihm den Namen Jesus.‹ Trüge der Herr nicht das Lendentuch, kön n te man sein an der Vorhaut beschnittenes Geschlecht sehen, und die Christenheit müsste eingestehen, dass sie zu einem Juden betet. Für meinen Geschmack hat die Kirche dem Volk Christi genug Unrecht angetan. Es ist allmählich an der Zeit, um Vergebung zu bitten und einiges wieder gu t zumachen. Sofern ich dazu beitragen kann, möchte ich das gerne tun.«
    Diese Erklärung – ausgerechnet aus dem Mund eines k a tholischen Ordensmannes – löste bei Nico einen Dam m bruch aus. Sein hinter einer Mauer aus Furcht und Vorurte i len aufgestautes Misstrauen zerfloss jäh ins weite Tal der Hilflosigkeit. Allein konnte er nicht gegen Manzini best e hen. Er musste sich jemandem anvertrauen. Warum eigen t lich nicht diesem geduldigen, freundlichen jungen Mönch. Hatte sich der Benediktiner ihm nicht förmlich ausgeliefert? Er teilte seine geradezu revolutionären Gedanken mit einem Knaben. Welchen Vertrauensbeweis brauchte es denn noch?
    Nico spürte Davides Hand auf seiner Schulter lasten und atmete tief durch. »Gehen Sie voraus, Signor Di Marco. Ich werde Ihnen folgen.«
    Der Mönch trocknete seine nasse Hand am weiten Ärmel der Kutte und richtete sich auf.
    »Sag Lorenzo zu mir«, klang seine leise Stimme herüber, als er sich abwandte. »Von nun an sind wir Brüder.«
     
    Keine Umarmung. Nur die auf der Schulter liegende Hand hatte Davide Ticianis Gefühle ausgedrückt – im wahrsten Sinne des Wortes. Ein paar schnell gemurmelte Segenswo r te, dann war der schmächtige Goldschmied d a vongegangen, im Geräusche des Vierströmebrunnens g e nauso leise wie ein kleiner Fisch. Unauffälligkeit konnte lebenswichtig sein, denn wer vermochte schon zu sagen, ob sein Haus nicht beobachtet und sie nicht bis zur Piazza Navona ve r folgt worden waren? Don Massimiliano musste über die Freundschaft von Emanuele und Nico dei Rossi zum Eh e paar Ticiani genau Bescheid gewusst haben. Wie sonst ha t te der Mörder so schnell zuschlagen können?
    Der Abschied von Meister Davide lag Nico schwer im Magen. Seit mindestens einer Viertelstunde folgte er nun schon im Abstand von ungefähr fünfzig Metern dem Mönch. Lorenzo Di Marco durchquerte ohne erkennbare Eile die Gassen und Sträßchen des Viertels Ponte Parione westlich der Piazza Navona, aber sein Schutzbefohlener musste sich trotzdem anstrengen, die im Takt raumgreife n der Schritte schwingende dunkle Kutte nicht aus den Augen zu verlieren. Manchmal sah er nur den kohlrabenschwarzen Haarschopf des Benediktiners aus einem wogenden Meer anderer Köpfe auftauchen und wieder darin verschwinden: ein Sturmvogel unter vielen. Quo vadis?, grübelte Nico. Wohin führt dein Weg, Lorenzo?
    Durch die Via Panico ging es zum Tiber hinauf, dann ü ber die Ponte Sant’Angelo zur Engelsburg hinüber. Allmä h lich dräute dem Jungen, welches Ziel der Mönch ansteuerte, aber wahrhaben wollte er es noch lange nicht. Lorenzo Di Marco wählte keine der beiden Straßen, die in gerader Linie auf den

Weitere Kostenlose Bücher