Der Herr der Unruhe
Nico die Abhörzentrale.
Ein Musterbürger hätte das leise Klopfen überhört. Aber Regimegegner, die ständig in der Gefahr lebten, entlarvt zu werden, besaßen hoch sensible Sinne. So auch Bruno, de s sen Gesicht und Oberkörper schon nach kurzer Zeit im Tü r spalt erschienen. Seine schwarzen Haare waren zerzaust, und er trug zur grauen Hose nur ein verflecktes Unterhemd.
»Du?«
»Ich muss mit dir reden«, raunte Nico.
»Hat dich Manzini geschickt?«
»Unsinn.«
»Sollst mich wohl bespitzeln.«
»Dein Gedächtnis scheint ein Sieb zu sein. Sonst wüsstest du, dass ich niemals mit ihm zusammenarbeiten würde. Und jetzt lass mich endlich rein. Ich bin gekommen, um dich zu warnen.«
Brunos Miene war anzusehen, wie er mit sich kämpfte. Schließlich öffnete er aber doch die Tür, ließ den Besucher ins Zimmer und drehte hinter ihm den Schlüssel zweimal im Schloss herum.
»Was willst du, Nico?«
»Ich war heute im Kommunalpalast.«
»Lass mich raten: Heute ist Freitag. Du hast mit diesem Faschistenschwein zu Mittag Fisch gegessen. Bist du w e nigstens satt geworden?«
»Bruno, können wir nicht endlich Frieden schließen? Du bist der Einzige in der Stadt, dem ich mich anvertraut habe. Ich will Manzini zur Strecke bringen.«
»Dann schließ dich der Giustizia e Libertà an. Wir werden Mussolini zum Teufel jagen.«
»Das erzählst du mir seit Monaten.«
»Meinst du etwa, die Faschisten lassen sich im Han d streich aus der Regierung werfen? So etwas braucht Zeit. Unsere Bewegung ist aktiver, als du dir vorstellen kannst, obwohl die OVRA sie lieber gestern als heute ausrotten würde. Wir haben prominente Unterstützer. Titta Ruffo …«
»Der Bariton?«
Bruno nickte. »Die Tage des Duce sind gezählt. Mach bei uns mit, ehe es hier in Italien eine zweite Kristallnacht gibt.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Und das Dekret gegen euch? Hast du wohl schon ve r gessen, was?« Bruno spielte auf einen Erlass vom 7. Se p tember 1938 an, der den Ausschluss jüdischer Schüler und Lehrer aus den staatlichen Schulen sowie die Ausweisung aller ausländischen Juden zum Inhalt hatte. Darüber hinaus sollte sich die jüdische Bevölkerung bei den Polizeipräs i dien in Listen erfassen lassen. Zu welchem Zweck, darüber konnte man nur spekulieren.
Dennoch blieb Nico skeptisch. »Die Deutschen neigen dazu, sich beim Essen die Zunge zu verbrennen, weil sie alles kochend heiß in sich hineinschieben. Wir Italiener sind anders, wir lassen die Speisen für gewöhnlich erst a b kühlen.«
»Ah, der belesene Herr Michel gibt Anschauungsunte r richt in Völkerkunde. Wenn du dich da mal nicht irrst, mein Lieber. Kurz bevor du hier aufgekreuzt bist – muss so Mitte Juni gewesen sein –, ging eine Propagandaschrift mit dem hübschen Titel ›Der Faschismus und das Rassenproblem‹ durch die Presse. Ich nehme an, Mussolini hat sie selbst verfasst, um sich bei Hitler einzuschleimen. In dem Pamp h let hieß es, dass es eine ›reine italienische Rasse arischen Ursprungs‹ gebe und ›die Juden der italienischen Rasse nicht ‹ angehörten. Die Betonung liegt auf nicht, Nico. Ü b rigens wurde darin auch jegliche ›Rassenvermischung‹ ve r urteilt. Nur als kleiner Hinweis, weil du immer noch der hübschen Katholikin Laura hinterherschielst.«
Nico spürte, wie sein Blut in Wallung geriet. »Bist wohl eifersüchtig auf mich?«
»Nicht die Bohne. Eher fließt das Wasser den Berg hi n auf, als dass Laura dich heiraten würde. Ich will dich nur wachrütteln, ragazzo. Deinen Leuten könnte bald übel mi t gespielt werden, von unserem glorreichen Duce. Mach bei uns mit! Mit deinen Fähigkeiten kommen wir schneller ans Ziel.«
»Das haben wir schon bis zum Erbrechen diskutiert, Br u no. Ich misstraue allen Eiferern, egal was sie auf ihre Fa h nen schreiben. Lass mich meinen Weg gehen, und du gehst deinen.«
»Aber trotzdem willst du mich vor etwas warnen?«, hakte Bruno nach, während er sein rechtes Auge zukniff.
»Vielleicht kannst du mir auch einen Gefallen tun.«
»Aha!«
»Jetzt tu nicht so selbstgefällig. Ich wäre auch gekommen, wenn ich deine Hilfe nicht brauchte. Es geht um den Ko l laps unseres Telefonnetzes heute Vormittag.«
Bruno grinste. »Wenn du von den Wehwehchen irgen d welcher Apparate sprichst, klingt das immer so … anat o misch.«
»Bei uns Uhrmachern ist es ganz normal, die Einzelteile eines Werks als Organe zu bezeichnen. Abgesehen davon hat unser Fernsprechnetz heute nicht zufällig
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