Der Herr der Unruhe
wird.«
»Das mag ja noch angehen: Erst wenn einer gestorben ist, weiß man, was für ein Leben er geführt hat. Aber bedeutet ein Freitod nicht gerade das, wovor du mich immer warnst?«
»Was meinst du?«
»Den Strom der Zeit mit einer Staumauer aufhalten zu wollen. Er lässt sich nicht bändigen. Man kann sich nur von ihm tragen lassen und das Beste aus der Reise machen. Ist das nicht deine Lebensregel?«
Johan lächelte. »Richtig. Weil Zeit Leben ist und Leben Zeit. Allmählich beginnst du zu verstehen. Ich habe dir die Worte Hermann Bahrs nicht gezeigt, damit du sie dir zum Glaubensbekenntnis machst. Aber leider erkennt man den richtigen Weg manchmal erst, wenn man ein Stück auf dem falschen gewandelt ist.«
Nico kratzte sich an der Nase. »Bin ich das denn?«
»Vielleicht in deinem Wünschen und Hoffen, mein Ju n ge.«
Er wich dem strengen Blick des Meisters aus. Manchmal schien Johan Mezei bis auf den Grund seiner Seele blicken zu können. Was war falsch daran, den Mörder seines Vaters einer gerechten Bestrafung zuzuführen?
Ein Moment der Stille trat ein. Johan schien mit sich zu ringen. Schließlich sagte er: »Erinnerst du dich, was ich neulich über einen Neuanfang in einem anderen Land g e sagt habe?«
»Ob du und Tante Lea aus Wien fortgehen sollen, meinst du?«
Johan nickte. »Ich spüre es in meinen morschen Knochen dass jetzt der Zeitpunkt dafür gekommen ist. Auf verlor e nem Posten auszuharren ist wohl das Dümmste, was man tun kann. Das hat nichts mit Feigheit zu tun. Merke dir das gut, Junge: Wenn der Feind dir auf die Pelle rückt, dann zieh dich in eine sichere Stellung zurück.«
10. KAPITEL
Der Gespaltene
Nettuno, 1939
Nico fragte sich, wie lange er noch sicher sein würde. Mö g licherweise sollte er den »Vorposten«, das Domizil seines ärgsten Feindes, räumen. Er könnte sich außerstande erkl ä ren, die Lebensuhr weiter zu pflegen. Don Massimiliano würde das nicht gefallen, aber zwingen konnte er den »Herrn der Unruhe« nicht. Wenn nur Uberto ein wenig durchschaubarer wäre! Manchmal benahm sich der tumbe Chauffeur wie ein netter Arbeitskollege, dann wieder schlich er gleich einem großen Raubtier durch den Palazzo Manzini oder beobachtete den Hüter der Lebensuhr aus dunklen Winkeln. Ob er am Sonntag sofort zu seinem Herrn gelaufen war, um ihm von dem Lauscher in den Schatten zu berichten?
Nachdem Nico den Stadtvorsteher in fast brüderlicher Eintracht mit dem Judenjäger Karl Hass beobachtet hatte, fühlte er sich mehr denn je innerlich zerrissen. Er glaubte zu spüren, wie sich sein Lebensschiff im Fluss der Zeit g e fährlichen Stromschnellen näherte. Es würde unweigerlich kentern und untergehen, wenn er das Ruder nicht fester als bisher anpackte. Aber wie konnte er seinen Gegner zur Strecke bringen, bevor dieser ihn ausschaltete? War ein Sieg überhaupt möglich, ohne Laura zu verlieren?
Von diesen Überlegungen gelähmt, war zwischen ihnen am Sonntag, während er sich lustlos mit der Lebensuhr b e schäftigte, kein vernünftiges Gespräch in Gang gekommen. Er hatte Laura nach dem deutschen Besucher gefragt.
Sie reagierte mit einem verhaltenen »Warum?«
»Der Mann ist bei der SS. Weißt du, was das bedeutet?«
»Wieso nur habe ich manchmal das Gefühl, du hältst mich für ein dummes Gör? Natürlich weiß ich, was das heißt: Schutzstaffel. Hitler hat sie zur Niederschlagung des kommunistischen Terrors ins Leben gerufen. Der Duce und der Papst sind genauso daran interessiert. Und mein Vater hasst alle Bolschewisten.«
»Das ist …!«, japste Nico, schnitt sich aber sofort selbst das Wort ab. Draußen lauerte Uberto. Flüsternd fuhr er fort: »Laura, die SS wurde 1925 gegründet, als die NSDAP noch nicht das war, was sie heute ist. Hältst du es für möglich, dass sich an ihren Aufgaben inzwischen einiges … geändert haben könnte?«
»Was zum Beispiel?«
»Sie könnten Jagd auf Juden machen.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Ich habe in Wien so einiges gesehen und gehört.«
Lauras Ton wurde hörbar kühl. »Du fängst doch nicht schon wieder damit an, meinem Vater irgendwelche G e meinheiten zu unterstellen, oder etwa doch? Worauf willst du hinaus, Niklas?«
Sein Mund öffnete sich, er starrte in ihre dunklen Augen, schüttelte den Kopf und stammelte: »Vergiss es.«
Vier Tage später hatten sich die Wogen geglättet. Als N i co am Donnerstag Früh um acht das Privatbüro des Podestà betrat, hakte sich Laura
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