Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
seid hier an der falschen Adresse. Ich heiße Niklas Michel. Ist das etwa der Name eines Juden? In meinem Ausweis steht schwarz auf weiß, dass ich katholisch bin. Wenn ihr wollt, kann ich ihn euch zeigen – vorausgesetzt jemand von euch ist des Lesens kundig.«
    Horst drehte sich Hilfe suchend nach dem Dünnen um. »Toni?«
    »Das kann nicht sein«, beharrte der. Seine nörgelnde Stimme klang ein wenig wie die eines verschnupften Marktschreiers. » Das Uhrengeschäft gehört dem Mezei – einem Juden. Du kannst aus dem Weg gehen, dann tun wir dir nichts, aber wenn du dich von der Judensau freihalten lässt, dann wirst am Ende du die Zeche zahlen.« Die Rei t peitsche machte Anstalten, handfeste Fakten zu schaffen, doch abermals hielt sie Nicos Gegenrede zurück.
    »Ich genieße die Protektion des Bischofs. Ihr seid doch wohl alle gute Katholiken. Wollt ihr Gottes Zorn auf euch laden?«
    Der Dünne lachte. »In diesem Land ist jeder Katholik, sogar die Atheisten. Wir lassen Gott einen guten Mann sein, dann wird er uns auch nichts tun? Ich werd’s dir beweisen. Kommt Leute.« Er winkte wie ein Kommandant die hinter ihm stehende Truppe zum Angriff.
    Nico streckte den Angreifern beide Hände entgegen und rief in beschwörendem Ton: »Nein, ich werde euch das Gegenteil beweisen. Wenn ihr noch einen Schritt tut, e r lischt euer Lebenslicht, so wie eure Handlampen. Hm hm-hm hm …« Er begann ein bedrohlich klingendes Lied zu summen.
    Einige in der Meute lachten, aber sofort verging ihnen die Fröhlichkeit wieder, denn nacheinander erloschen sämtliche Lichter. Sogar die Straßenlaterne ging aus. Nur die Fackeln brannten noch und tauchten den summenden Jungen in ein gespenstisches Licht.
    »Das gefällt mir nicht, Toni«, jammerte der Fleischberg.
    »Unsinn! Nichts als Zufall.«
    »Vielleicht ist er ein Medium«, rief jemand aus dem Schutz der Menge, »wie dieser Hanussen.«
    Der Dünne stemmte sich gegen den Unmut seiner Truppe an. »Ha! Dass ich nicht lache! Was ist denn aus dem großen Magier geworden? Der sieht sich schon lange die R a dieschen von unten an.«
    »Vielleicht weil er mit dem Teufel im Bunde war«, gab Nico zu bedenken. »Aber ihr vergeht euch hier gegen einen, der mächtiger ist. Dem Herrn der Lichter und dem Gebieter der Zeit.«
    Obwohl der Verteidiger des Ladens kaum die Stimme e r hob trug sie ungemein weit. Sogar der Letzte im Mob kon n te ihn verstehen. Nico ging rückwärts bis zum Schaufenster und legte die Rechte an das Glas. Ohne den Blick von dem Pöbel zu nehmen fügte er hinzu: »Er kann euren Herzschlag auf ewig anhalten, so wie er diese Uhren stehen bleiben lässt.«
    Der zuvor schon erlebte Ausfall der elektrischen Beleuc h tung hatte die Meute sensibilisiert. Obwohl der Dünne ein halbherziges Lachen herauspresste, starrten alle auf die drei Wand- und zwei Standuhren im Schaufenster.
    Alle blieben zur selben Sekunde stehen.
    »Damit will ich nichts zu tun haben«, sagte Horst, der D i cke, mit bebender Stimme, machte auf dem Absatz kehrt und rannte davon. Im Nu löste sich der Mob auf.
    Zuletzt stand nur noch die Reitpeitsche da und zischte: »Judenkollaborateure können wir hier nicht gebrauchen. Wir kommen wieder, und dann geht’s dir an den Kragen.«
     
    »Hier, ich hab’s gefunden«, sagte Johan und schob Nico das Buch über den Tisch. Es stammte von einem österre i chischen Schriftsteller namens Hermann Bahr. Die Textste l le war die Antwort des Meisters auf eine Frage seines Gesellen: Warum begehen all diese Leute Selbstmord?
     
    Ich habe den Tod lieb. Nicht als Erlöser, denn ich leide nicht am Leben. Nein, aber als Erfüller. Er wird mir alles bringen, was noch fehlt. Dann geht die Saat meines Lebens erst auf. Er nimmt mir nichts und gibt mir noch viel …
     
    Nico blickte verwirrt von dem Buch auf. »Meint er das ernst?«
    »Ich denke schon«, antwortete Johan schmunzelnd.
    »Tod als Erlösung von Qual, das würde ich noch verst e hen, aber das da …« Der Junge schüttelte den Kopf. »Wie kann der Tod diesen Menschen etwas geben?« Seine Frage zielte auf die Suizidwelle ab, die nach Hitlers »Heimh o lung« durch ganz Österreich geschwappt war.
    Johan hob Hände und Schultern. »Wer vermag das schon zu wissen? Vielleicht haben diese bemitleidenswerten Zei t genossen das befürchtet, was in der Nacht zum Samstag Herschel Kornblum und fast auch uns passiert ist. Übrigens hat sogar der weise Salomon gesagt, dass der Tag des T o des besser sei als der, an dem man geboren

Weitere Kostenlose Bücher