Der Herr der Unruhe
das Kino. Laura war hier offenbar keine Fremde. Die Kassiererin b e grüßte sie wie eine alte Bekannte. Ennio sei im Vorfüh r raum. Sie winkte das Paar vorbei.
Ennio Cardelli sah nicht nur aus wie ein raubeiniger Se e bär; er war tatsächlich Fischer gewesen, bevor ihn ein U n fall ans Festland verbannt hatte. Seitdem führte er Filme vor. Der gedrungene Mann hatte einen Stoppelbart, lichtes grau meliertes Haar, eine großporige Knollennase und ein sonniges Gemüt. Seine Begrüßung fiel erstaunlich herzlich aus.
»Laura! Komm her, lass dich drücken.«
Sie küsste ihn auf die linke und danach auf die rechte Wange. »Wie geht es Francesca?«
»Prächtig! Sie schlägt ganz nach ihrem Vater.«
Die zwei lachten, was bei Nico gewisse Irritationen au s löste. War es der »Deckhengst« oder der Fischer, dem die Heiterkeit der beiden galt?
»Wen hast du mir da mitgebracht?«, fragte Ennio schlie ß lich.
Nico streckte ihm die Hand entgegen. »Mein Name ist Niklas Michel.«
»Etwa der Niklas Michel? Il Tedesco ? Der Walzenbänd i ger? Der Hüter der Lebensuhr? Der Herr der Unruhe? Don Massimilianos Doctor Mechani…«
»Die Leute übertreiben manchmal ein bisschen«, unte r brach Nico die ihm peinliche Aufreihung seiner Titel.
»Dein Freund?« Die Frage war an Lauras Adresse geric h tet.
Sie zog die Nase kraus und nickte.
Anstatt die Hand nahm der Filmvorführer gleich den ga n zen Mann. Nachdem er nun seinerseits Nico beide Wangen geküsst und ihn hinreichend gedrückt hatte, wandte er sich wieder Laura zu.
»Ich freue mich ja so für dich. Wenn ich mich nicht irre, ist es das erste Mal, dass du in mein Kabuff einen jungen Mann mitbringst. Leider kann ich euch hier nicht alleine lassen.« Er lachte.
Nico lief rot an. »Ich bin, wie Sie ja wohl wissen, tec h nisch interessiert. Laura dachte …«
»Ich hoffe nicht nur technisch, sondern auch biologisch«, unterbrach ihn Ennio und zwinkerte übertrieben mit dem rechten Auge.
Laura bestrafte ihn für die ungehörige Bemerkung mit e i nem Klaps auf die Hand. »Ennio! Untersteh dich, mir i r gendwelche unmoralischen Absichten zu unterstellen. Dü r fen wir während der Wochenschau bei dir bleiben? Danach gehen wir dann auch brav in den Saal hinunter.«
»Wie könnte ich diesen Augen etwas abschlagen! Bleibt nur da, ihr beiden Turteltäubchen, aber steht mir nicht im Weg herum.«
»Danke, Ennio.« Sie fiel dem ausgemusterten Seebären erneut um den Hals, und Nico fragte sich insgeheim, warum er nicht Fischer geworden war.
Wenig später verfolgte er den Vorführer aufmerksam d a bei, wie er die Filmrolle auflegte, das Zelluloid um mehrere Führungsrollen fädelte und schließlich ein Stück um die leere Aufnahmespule wickelte. Durch eine kleine Öffnung neben dem Projektionsfenster konnte er die Leinwand s e hen.
Vielleicht steckte ja ein propagandistisches Kalkül dahi n ter, dass der von den Deutschen angestrengte Krieg nicht den ersten Platz unter den Nachrichten der Wochenschau einnahm. Sie widmete sich zunächst nationalen Themen. Voller Stolz wurde von dem grandiosen Erfolg eines itali e nischen Fahrers beim Belgrader Stadtrennen vom 3. Se p tember berichtet. Tazio Nuvolari (Auto-Union) hatte den aus Anlass des Geburtstages von König Peter II. organisie r te Vergleich gewonnen. Platz zwei und drei belegten Ma n fred von Brauchitsch und Rudolf Caracciola (Mercedes). Nico schüttelte den Kopf.
»Es lebe die Allianz!«
Laura hatte sein Gemurmel nicht verstanden. »Was sagst du?«
»Die deutsch-italienische Zusammenarbeit scheint präc h tig zu funktionieren.«
Sie hakte sich bei ihm unter. Sein zynischer Ton schien sie zu beunruhigen. Reiß dich zusammen!, schalt er sich in Gedanken.
Inzwischen flimmerte ein Bericht aus dem Vatikan über die Leinwand. Es ging um Papst Pius XII. der den am 10. Februar verstorbenen Pius XI. abgelöst hatte. Das Konklave hatte den vormaligen Staatssekretär am 2. März bereits im dritten Wahlgang nach nur zweiundzwanzig Stunden Ber a tung zum Pontifex Maximus gewählt. Die Wochenschau zeigte Pius XII. bei seiner Rundfunkansprache, die er a n lässlich seines Amtsantritts gehalten und in der er den Fri e den beschworen hatte. Der drohenden Ausweitung des Krieges trat der neue Oberhirte aller Katholiken nun mit weiteren Appellen dieser Art entgegen.
Was nur wenige Tage nach Beginn seines Pontifikats in Wien geschehen war, wurde nicht erwähnt, aber Nico kon n te sich noch lebhaft daran erinnern. Der »Anschluss« Öste
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