Der Herr der Unruhe
Unwägba r keiten in sich bergen würde. Die Geborgenheit im Heim der Mezeis war ihm dagegen sicher.
Zumindest glaubte er das.
Dank seiner guten Leistungen in der Schule konnte Nico 1937 die Lehre zum Uhrmachergesellen mit Auszeichnung beenden. Damit war eines der von Johan gesteckten Eta p penziele erreicht. Im Jungen regte sich erneut die Unruhe.
Nach seiner Freilassung aus dem Anhaltelager hatte Johan Mezei seine politische Gesinnung zu einem Buch mit si e ben Siegeln gemacht. Nur ab und zu beobachtete ihn Nico dabei, wie er im Laden heimlich irgendwelche Zeitschriften las. Im Oktober fiel dem Gesellen eine Ausgabe des ko m munistischen Blattes Weg und Ziel in die Hände. Nico e r schrak. Wohin sollte das führen? Legte es Johan etwa da r auf an, ein weiteres Mal interniert zu werden?
Voller Misstrauen überflog Nico den Inhalt eines Artikels mit dem Titel »Zur nationalen Frage in Österreich«. Darin beschwor ein gewisser Alfred Klahr anhand historischer Beispiele die kulturelle Eigenständigkeit und Unabhängi g keit Österreichs von Deutschland. Dem jungen Leser stellte sich die Frage, ob Schlagbäume oder Grenzzäune für das Glück der Menschen wirklich entscheidend waren. Trot z dem dräute ihm, dass die vor allem von nationalsozialist i scher Seite zunehmend penetranter vorgetragenen Ford e rungen nach einer Vereinigung Deutschlands mit Österreich mehr als politisches Wunschdenken sein könnten.
Derlei Bestrebungen beunruhigten bei weitem nicht nur Nico. In der Synagoge hörte man allerlei Schauergeschic h ten über die rücksichtslose Behandlung von Juden im Deu t schen Reich. Am Horizont zogen dunkle Wolken auf.
Schon wenig später, am 12. Februar 1938, musste sich Schuschnigg auf den Obersalzberg zum deutschen Führer und Reichskanzler zitieren lassen. Im verschneiten Berc h tesgaden setzte Hitler dem österreichischen Bundeskanzler die Pistole auf die Brust. Schuschnigg sollte Österreichs Wirtschafts-, Militär- und Außenpolitik der deutschen a n passen und den Nationalsozialisten Arthur Seyß-Inquart zum Innenminister ernennen. Um einen Einmarsch deu t scher Truppen in seinem Land zu verhindern, gab Schusc h nigg zähneknirschend nach.
Es war nicht schwer zu erraten, worauf das Ultimatum Hitlers abzielte, denn schon im Deutschen Reich hatte die nationalsozialistische Führung ihre Macht durch die Gleichschaltung der Länder manifestiert. In diesen Tagen im Frühjahr ‘38 machte Meister Johan zum ersten Mal eine Äußerung, die Nico sofort mit Begeisterung aufgriff.
»Aus Wien fortgehen? Wir könnten doch gemeinsam zu Onkel Davide nach Rom ziehen.«
Johans Finger spielten mit einem Pendel, das zu einer lahmenden Wanduhr gehörte. Die beiden führten in der Werkstatt ein, wie sich der Meister ausgedrückt hatte, »G e spräch unter Männern«. Er begegnete unverwandt Nicos flammendem Blick. »Du brauchst gar nicht so zu gucken. Ich habe gesagt, wenn Hitler den ›Anschluss‹ durchsetzt, dann überlege ich mir, ob wir nach Italien umziehen. Noch ist nicht aller Tage Abend. Schuschnigg hat für den 13. März eine Volksabstimmung für ›ein freies, deutsches, u n abhängiges und soziales, für ein christliches und einiges Österreich‹ angekündigt. Ist dir aufgefallen, dass er das Lieblingswort von Doktor Dollfuß weggelassen hat?«
»Du meinst ›autoritär‹?«
Der Meister lächelte grimmig. »Unser strenger Herr Bu n deskanzler soll sogar eine Abordnung von Sozialdemokr a ten zu sich geladen haben, obwohl wir doch als illegal a b gestempelt worden sind. Vielleicht bringt die Bedrohung durch Hitler eine Koalition aller politischen Kräfte im Land hervor.«
»Politik!«, schnaubte Nico. »Ich kann dieses Wort nicht mehr hören. Warum lassen sie uns nicht einfach in Frieden leben?«
»Weil jeder Friede seinen Preis hat, mein Junge.«
Man sagt den Österreichern nach, sie seien mehr als and e re Völker dem Tod verhaftet. Nicht wenige Große dieser N a tion machten ihrem Leben selbst ein Ende. Allzu viele Kleine folgten nur wenige Tage nach dem Gespräch der beiden Uhrmacher dieser Tradition.
Den Anlass für die Selbstmordwelle gab eine Entwic k lung, die Johans Hoffnung wie eine Seifenblase zerplatzen ließ. Noch ehe der Monat zu Ende ging, verabschiedete sich Doktor Kurt Schuschnigg am 11. März in einer Rundfun k ansprache von seinen Landsleuten mit den Worten: »Gott schütze Österreich!« Hitler und Göring hatten zuvor seinen Rücktritt sowie die Einsetzung von
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