Der Herr der Unruhe
Seyß-Inquart als Bu n deskanzler gefordert. Am Tag nach der Erfüllung ihres B e gehrens überschritten Truppen der Deutschen Wehrmacht gegen fünf Uhr dreißig die österreichische Grenze.
Bereits in der Nacht wurden die Bewohner der Porzella n gasse 30 von einem beunruhigenden Lärm geweckt. Nico hörte das Geräusch von berstendem Glas. Wenige Seku n den später hatten sich er, Lea und Johan am offenen Fenster im Wohnzimmer versammelt. Auf der Straße skandierte ein Männerchor ein unharmonisches »Juda verrecke!«.
»Es beginnt schneller, als ich gedacht habe«, knirschte Johan.
Lea ballte die Fäuste vor dem Mund. »Sie haben He r schels Schaufenster zerschlagen. Jetzt werden sie sich uns e ren Laden vornehmen.« Tatsächlich rückte die Meute von der koscheren Metzgerei Herschel Kornblums, die weiter unten in der Porzellangasse lag, auf das Haus Nummer 30 zu. Einige der Männer trugen Handlampen, andere hielten Fackeln. Die meisten waren mit Knüppeln oder sonstigen Gegenständen bewaffnet, die sich als Waffen zwecken t fremden ließen.
»Wir können sowieso nichts dagegen tun«, entgegnete Johan schicksalsergeben. »Vielleicht ist ihre Zerstörung s wut verraucht, bis sie hier ankommen.«
In Nico tobte ein Sturm. Sollte er ein weiteres Mal tate n los zusehen, wie geliebten Menschen Schaden zugefügt wurde? Er schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Wenn sie das Geschäft des Fleischhauers zerstört haben, werden sie auch unseres nicht schonen. Ich muss etwas unternehmen.«
»Hast du den Verstand …?« Weiter kam Johan nicht, denn Nico war schon losgelaufen.
Auf dem Flur riss der Geselle seine grüne Lodenjacke vom Bügel, schlüpfte in die Straßenschuhe, ohne sie zuz u binden, und rannte hinaus. Während er die Treppe hinabei l te, kamen ihm erste Zweifel. Wie sollte er den Mob aufha l ten? Die Kerle hatten nicht so ausgesehen, als würden sie sich von einem schmächtigen Uhrmachergesellen den Spaß verderben lassen.
Zwei Stockwerke tiefer versperrte ihm auch noch »das Auge« Hrdlicka den Weg. »Jetzt geht’s deinen Leuten an den Kragen«, geiferte sie.
Nico ballte die Fäuste, schob sein Gesicht ganz dicht vor das ihrige und zischte: »Geben Sie Acht, dass es nicht gleich Ihnen an den Kragen geht, Frau Hrdlicka.«
Die Witwe zeigte sich beeindruckt. Sie riss Augen und Mund auf. »Du wirst doch nicht …«
Nico drückte sich an ihr vorbei und lief die Treppe hinab. »Eins nach dem anderen, Frau Hrdlicka.« Je weiter er sich von ihr entfernte, desto mehr wuchs ihr Mut. »Schäm dich, Niklas«, rief sie ihm nach. »Trägst den Namen eines uns e rer Heiligen und hilfst diesem Judenpack.«
Nico wurde für einen Moment langsamer. Gerade hatte ihm »das Auge« verraten, wie er sich der wilden Meute erwehren konnte. »Danke, Sie haben mir sehr geholfen«, rief er über die Schulter und sorgte damit bei Frau Hrdlicka für ein gewisses Maß an Irritation.
Endlich erreichte er die Straße. Die Südfront des Eckha u ses lag an der Grünentorgasse, deren Fahrbahn der Pöbel gerade als Aufmarschgebiet benutzte. Einige Randalierer trugen Dachlatten, andere Vorschlaghämmer und sogar Äxte. In wenigen Augenblicken würde die Horde den U h renladen erreichen. Nico baute sich vor dem Schaufenster auf, hinter dem einige größere und kleinere Auslagen mu n ter tickten.
»Keine Angst, meine Lieben, es geschieht euch nichts«, murmelte er, wohl hauptsächlich zur eigenen Ermutigung.
Erste Unruhestifter trafen ein. Die Vorhut bildete ein kaum volljähriger Fleischberg mit dünnem Schnauzbart und ein Kerl, der Nico an eine wandelnde Reitpeitsche mit P o ckennarben denken ließ. Während Ersterer auf ihn nicht den Eindruck eines großen Redners machte, ergriff Letzterer umgehend das Wort. »Weg da!«, fauchte er. Im Hinte r grund skandierte der Männerchor immer noch sein »Juda verrecke!«.
»Ich …« Nicos Stimme zerbrach wie ein trockener Keks. Er musste sich räuspern, um ihr mehr Festigkeit zu verle i hen. »Das hier ist mein Laden. Euch habe ich hier noch nie gesehen. Also besser, ihr verschwindet, bevor ich die Pol i zei rufe.«
Das Narbengesicht grinste. »Hört euch das an! Die Jude n sau wird auch noch frech. – Horst.«
Horst war offenbar der Fleischberg, denn allein die Ne n nung des Namens genügte, um ihn in Bewegung zu setzen.
»Halt!«, riet Nico und streckte dem menschlichen Ram m bock die Handfläche entgegen. Der Massige war so viel Gegenwehr anscheinend nicht gewohnt und zögerte.
»Ihr
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