Der Herr der Unruhe
März 1938 von den Massen umjubelt sein Geburtsland ins Deutsche Reich »heimholte«, bedeutete das für eine Minderheit das Todesurteil. Zores hatte Johan Mezei das mit Fackeln und Knüppeln bewaffnete Gesindel genannt, das sein Geselle mit viel Massel vertrieben hatte. In den Tagen und Wochen danach bangte Nico weniger um sein eigenes Leben als vielmehr um die zwei, denen er so viel Dank und Liebe schuldete. Wie ein Samenkorn im Boden sterben muss, um eine starke Pflanze hervorzubringen, hatte sich seine Kindlichkeit in den vergangenen Monaten unmerklich aufgelöst. Nun wuchs in dem noch knabenhaften Körper die Persönlichkeit eines unbeugsamen jungen Mannes.
Die Regierung hatte, vermutlich auf Druck der ausländischen Presse, die Plünderungen von jüdischen Geschäften und die pog-romhaften Ausschreitungen in der Nacht vom 11. auf den 12.
März ausdrücklich verurteilt. Hitler könne sich also doch nicht alles erlauben, beschwor Lea wie viele ihrer Glaubensgenossen die friedliche Vergangenheit. Offiziell wurden die »Arisierun-gen« jüdischer Betriebe als illegal bezeichnet, aber ständig hörte man in der Stadt und darüber hinaus von weiteren gewaltsamen Inbesitznahmen durch »wilde Kommissare«. Es mussten Zehntausende sein, die immer noch gierend nach jüdischen Vermögen durch das Land streiften.
»Jetzt ist Chuzpe gefragt«, verkündete Johan am 10. April 1938.
Es war der Tag, an dem die Österreicher den bereits vollzogenen 247
Anschluss per Plebiszit absegnen sollten. Die Bischofskonferenz in Wien hatte auf Veranlassung von Kardinal Theodor Innitzer in einem Hirtenbrief die Empfehlung ausgesprochen, bei dem Volks-entscheid mit Ja zu stimmen.
»Chuzpe?«, fragte Nico. »Inwiefern brauchen wir Dreistig-
keit?«
»Um aus diesem Schlamassel herauszukommen, ohne dabei
pleite zu gehen. Wir – Moritz und ich – benötigen noch einige Wochen, bis wir unser Vermögen aufgelöst und nach Italien trans-feriert haben. Am schwierigsten wird es wohl sein, das Geschäft ohne allzu viel Verlust zu verkaufen. Deshalb werde ich es dir überschreiben.«
»Was willst du tun?«
»Jetzt schau mich nicht so ungläubig an. Du bist Christ …«
»Bin ich nicht !«
»Aber der Vatikan hat dir ein paar hübsche Papiere hingemau-schelt, die jeden Beamten überzeugen werden. Wenn der Laden dem Uhrmacher Niklas Michel gehört, dann werden die Kommissare ihn nicht konfiszieren.«
»Aber ich bin nicht mal volljährig. Außerdem darf nur ein Meister einen Handwerksbetrieb leiten.«
»Alles richtig. Aber niemand verbietet, dass ein Kind der Eigentümer eines Geschäfts ist. Du darfst einen Meister einstellen, damit der Laden läuft. Wie wär’s mit mir?« Johan grinste.
»Ganz schön unverfroren.«
»Ich sagte ja, jetzt ist Chuzpe gefragt.«
»Wie lange wird das funktionieren? Ich meine, sie haben mich bei der letzten Plünderungsaktion schon als Kollaborateur be-schimpft.«
Der Meister klopfte seinem Gesellen auf die Schulter. »Nur für kurze Zeit, mein Junge, aber das wird uns genügen. Mach dir nicht so viele Sorgen.«
Bis August 1938 hatten die Mezeis ihre Verhältnisse geregelt. Es war geplant, im Laufe des folgenden Monats nach Italien überzu-248
siedeln. Johan wollte zu Leas Verwandten nach Rom gehen. Sein jüngerer Cousin Moritz – der Schriftsteller – hatte sich für ein etwas weiter nördlich gelegenes Exil in Pitigliano entschieden, die Italiener nannten den toskanischen Ort wegen seiner leben-digen und vergleichsweise großen jüdischen Gemeinde La Piccola Gerusalemme, »das kleine Jerusalem«.
Am 8. September fuhren Johan und Nico mit der Tram zur italienischen Gesandtschaft in den III. Bezirk. Das Botschaftsviertel lag in nobler Umgebung auf dem Areal der ehemaligen Grünanla-gen des Palais Metternich. Im Gebäude herrschte ein großer An-drang. Augenscheinlich hatten sich viele Emigranten das südliche Nachbarland als Zufluchtsort oder als Sprungbrett in ein weiter entferntes Exil gewählt.
Nach knapp drei Stunden wurden die Antragsteller zu dem
Botschaftsmitarbeiter vorgelassen, der die Einreisevisa aushändigte. Es handelte sich um einen bebrillten pomadisierten Mann mit schmalen Schultern, weißem Hemd und dunkler Weste. Er hatte sich, aus welchen Gründen auch immer, hinter einem Gitter verschanzt. Nur ein Rundbogenfenster erlaubte den Austausch von sperrigen Dokumenten. Das Namensschild hinter den Stäben wies ihn als Luigi Biondi aus.
»Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt in
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