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Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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jagt.«
    »Der Ewige hat uns mit Willensfreiheit ausgestattet, Bruno.
    Wenn du den Krieg als Lösung der Probleme wählst, dann kann ich dich nicht davon abhalten. Aber hindere bitte nicht mich, meinen eigenen Weg zu gehen. Oder gelten eure Ziele – Gerechtigkeit und Freiheit für alle – in Wahrheit nur, solange jemand euch zu Munde redet? Der wahre Prüfstein edler Ideale ist der Querkopf, der Andersgläubige, der Freigeist. Wenn ihr den Verfechter einer anderen, möglicherweise unbequemen oder euch sogar unverständlichen Meinung verfolgt, dann seid ihr im Grunde selbst Diktatoren. Ich wünsche dir einen klaren Kopf, mein Freund.«
    Nico wandte sich zum Gehen.
    »Soll das etwa dein letztes Wort sein?«, stieß Bruno hervor.
    Speichel spritzte ihm aus dem Mund.
    Nico strebte unbeirrt dem Ausgang der Höhle entgegen. »In 422
    dieser Angelegenheit ja. Falls du zu einer Partie Schach bei mir vorbeischauen willst – jederzeit gerne.«
    »Das kannst du vergessen!«, blaffte Bruno.
    »Mir auch recht. Ich bin sowieso kein guter Spieler«, entgegnete Nico, ohne sich noch einmal umzudrehen. Die wütende
    Stimme seines Gefährten hallte zunehmend leiser hinter ihm her.
    »Das stimmt, du verdammter Sturkopf. Ohne mich bist du auf-geschmissen. Warts nur ab! Bald bist du schachmatt.«
    423

    Nettunia, 1944

    ie Piazza Umberto I. war ein finsteres Loch zwischen den Dä-
    Dchern der Stadt. Der heimliche Beobachter glaubte im alten Garnisonsbau, gegenüber dem kleinen »Palazzo« Porfiri, wo man früher zum Markt abgebogen war, einen schwachen Lichtschimmer auszumachen. Typisch! Die Kommandostelle der Wehrmacht ging mit der Verdunkelungsvorschrift am nachlässigsten um.
    Nico wandte sich wieder dem Palazzo Manzini zu, der wie ein schwarzer Klotz unter dem mondlosen Himmel lag.
    Der schattenhafte Späher befand sich in einem verlassenen Haus auf der Südseite des Platzes. Die Fensterscheiben waren beim letzten Angriff der deutschen Sturzkampfbomber zu Bruch gegangen. Wie die Augenhöhlen eines Totenkopfes blickten ihre glaslosen Lichtöffnungen auf die umliegenden Gebäude.
    Nicos mit Ruß geschwärztes Gesicht im zweiten Stock war so gut wie unsichtbar. Sein Puls galoppierte vor gespannter Erwartung. Er fühlte sich so energiegeladen wie lange nicht mehr. Inzwischen ging das Wechselfieber gnädiger mit ihm um. Der letzte Anfall lag sechs Tage zurück.
    Nach der gescheiterten Gefangennahme Manzinis und dem
    anschließenden Streit mit Bruno war er unverrichteter Dinge nach Nettunia zurückgekehrt, genauer gesagt zum Torre Astura.
    Das alte Türschloss der Festung hatte ihm nur widerwillig Einlass gewährt. Vielleicht spürte es seine jüdische Herkunft – es war ja immerhin römisch-katholisch. In der darauf folgenden Nacht hatte ihm das »Echo« der Malaria übel mitgespielt. Es war ein qualvolles Pendeln zwischen Schüttelfrost und Fieber. Am nächs-424
    ten Morgen hatte sich sein Zustand gebessert, aber er gönnte sich noch einen Tag Ruhe. Danach machte er sich wieder an die Arbeit.
    Seitdem hatte er Manzini einige schmerzhafte Nadelstiche
    beigebracht – hier ein paar kollabierte Lieferwagen, dort ein taubstummes Telefon –, aber so klein und, für sich allein betrachtet, unbedeutend diese Störungen erscheinen mochten, setzten sie dem Ruf des »Gouverneurs« in der Summe gesehen gehörig zu.
    Die Tötung von neunundzwanzig Partisanen in den Pontini-
    schen Sümpfen bei »nur einer Hand voll eigener Verluste« war den Vorgesetzten von Generalmajor Hansen zwar offiziell als Erfolg verkauft worden, aber hinter vorgehaltener Hand schmiedete man bereits Pläne, um Manzini ohne allzu großes Aufsehen aus dem Weg zu räumen. Er sei nicht allein schuld am Tod von fünf italienischen SS-Kameraden, sondern habe das lokale Kommando mit seinen Kungeleien wie einen Haufen pickeliger Pennäler aussehen lassen. Als ob die Wehrmacht unfähig sei, ihren eigenen Dreck wegzukehren!
    Ungefähr diesen Wortlaut entnahm Nico der Unterhaltung
    zweier deutscher Offiziere, die er vor zwei Tagen in Nettuno während eines Experiments belauscht hatte. Die Idee zu dem Versuch war ihm nach der Lahmlegung des deutschen Konvois in den Sümpfen gekommen. Wenn er sich mental nur genügend vorbereitete und seine Kräfte sammelte, dann konnte er sogar auf mittlere Entfernung mit Maschinen in Kontakt treten. Er musste sie nicht einmal berühren oder ihnen etwas vorsummen. Das waren nur Angewohnheiten, allenfalls Krücken, von denen er sich jetzt befreit

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