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Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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hatte. Um seine Gabe auszuloten, lieh er sich Doktor Montis Radioempfänger aus.
    Der Gemeindearzt hatte sich kurz und heftig gesträubt. Immerhin war das Gerät sein »Draht nach London«. Nico weihte ihn in seine Pläne ein. Wenn es gegen Don Massimiliano gehe, dann sei ihm kein Opfer zu groß, verkündete der Mediziner, der wie auch die Bäcker und der Barbier eine Sonderaufenthaltsge-425
    nehmigung für Nettunia besaß. Außerdem, so gab er zu, interessiere ihn der wissenschaftliche Aspekt des »Fernwirkungs-experiments«.
    Der Fokus von Nicos außergewöhnlichem Sinn war auf die
    Funkstation des deutschen Hauptquartiers in Nettunia gerichtet.
    Die Anlage befand sich im alten Garnisonsgebäude an der Piazza Umberto I. Der Lauscher bezog seinen Posten unweit davon in einem leer stehenden Haus, das über einen Zugang zu den unterirdischen Tunneln verfügte. Der Tipp stammte von Signora Tortora, die sich spontan bereit erklärt hatte, ihn beim Abhören des »Rundfunks« zu unterstützen. Wie sich bald herausstellte, funktionierte das aber nur für begrenzte Zeit, weil sich der Mit-teilungsdrang der Geräte in Nicos Abwesenheit wie eine Sanduhr schnell erschöpfte.
    Der erste Versuch war sehr spannend verlaufen. Nico nahm
    das Radio ins Gebet, streichelte es, eröffnete ihm neue Horizonte und brachte es schließlich tatsächlich so weit, über eine Distanz von ungefähr fünfhundert Metern mit dem Funkgerät der Deutschen in Dialog zu treten. Seitdem konnte er hören, was das Mikrofon der militärischen Kommunikationsstelle auffing, unabhängig davon, ob die Gespräche der Deutschen durch den Äther gingen oder nicht.
    Gerade im letzten Fall war Doktor Montis Radio, wie die Unterhaltung über Manzinis Niedergang eindrucksvoll bewies, ein lebhaft sprudelnder Quell aufschlussreicher Nachrichten. Die offiziellen Mitteilungen wurden verschlüsselt, waren für Nico also unverständlich, aber gerade das Geplauder nebenbei oder die von Offizieren dem Funker im Klartext diktierten Meldungen hatten es in sich. Der Lauscher erfuhr von Truppen- und Mate-rialtransporten, Änderungen des Dienstplanes, Krankmeldungen und vielem mehr.
    Einige der schmerzhaftesten »Nadelstiche«, die Nico seinem Gegenspieler in den vergangenen sechs Tagen verpasst hatte, verdankte er der »Plaudertasche«, wie Signora Tortora den Empfänger des Gemeindearztes nannte. Mit der Aktion an diesem Abend 426
    wollte er ein wichtiges Etappenziel erreichen: Der Dynast von Nettunia sollte in den Augen seiner deutschen Bundesgenossen zu einem Sicherheitsrisiko werden. Wenn es gelang, die Demon-tage ihres »Gouverneurs« bis zu diesem Punkt zu treiben, dann war er so gut wie schutzlos. Die Deutschen hatten Benito Mussolini noch mit einem Fallschirmjägerkommando befreit, aber Massimiliano Manzini würden sie den Amerikanern mit Kusshand überlassen.
    Dann, da war sich Nico sicher, würde Justitia ihre Waage
    auspacken. In die eine Schale käme der nur noch äußerlich schwergewichtige »Stadtfürst«, und in die andere würde sie die drückende Beweislast häufen, das verräterische Dante-Zitat aus der Lebensuhr und den Kronzeugen. Letzterer war Nicos Ass im Ärmel, das er Vittorio Abbado verdankte. Die Nachforschungen des zum Archivar degradierten Assistente del Procuratore hatten seine kühnsten Vermutungen bestätigt. Vorläufig sollte Don Massimiliano ruhig in dem Glauben bleiben, niemand kenne die Identität jenes großen Unbekannten, der ihm den Strick um den Hals legen konnte, aber zur gegebenen Zeit würde er eine böse Überraschung erleben.
    Mit diesen Gedanken im Kopf hatte Nico dem Palazzo Manzini vor wenigen Minuten einen weiteren Besuch abgestattet; eigentlich war es nur eine Stippvisite. Diesmal ließ er mehr Vorsicht walten als bei seinem letzten Gastspiel.
    Der unterirdische Zugang befand sich noch im selben Zustand, wie Nico ihn vor zehn Tagen verlassen hatte – das Schloss hätte sich erinnert, wenn es anders wäre. Offenbar wusste niemand, wie er zuletzt in den Palast eingedrungen war. Oder lauerte hinter der Tür ein Dutzend Bewaffneter? In Ruhe befragte Nico mehrmals das Schloss. Nein. In dem Raum nebenan war niemand. Erneut schob er die Truhe mit der Tür zur Seite. Er hatte beide beim letzten Mal mit einem kurzen Tau verbunden, wodurch die Kiste beim Schließen der Tür fast wieder in ihre alte Position gerückt worden war.
    Das phosphoreszierende Zifferblatt seines Taschenchronome-427
    ters gab ihm Auskunft über die Zeit. Es war

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