Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition)
wartete darauf, dass mir mein Körper diese erneute falsche Entscheidung vergab.
Nachdem ich ein paar Minuten Buße getan hatte, setzte ich die Füße auf den Boden und richtete mich langsam auf. Mein Magen drückte abermals sein Missfallen aus, aber diesmal nicht ganz so heftig. Nachdem ich mir meinen Ranzen vom Fußende des Bettes geschnappt hatte, schlüpfte ich ins Treppenhaus und ging ins oberste Stockwerk.
Blaureihers Wohnzimmer war leer, die Fenster fest geschlossen, der Kamin voller Asche. Ich wartete eine Weile. Blaureiher war ein Mann von grenzenloser Großzügigkeit und praktisch unerschöpflicher Geduld, aber er legte auch großen Wert auf seine Intimsphäre. Seit wir uns kannten, hatte ich noch nie seine Privatgemächer betreten. Aber andererseits konnte ich ja schlecht in dem Bademantel, den ich anhatte, nach Hause gehen.
Obwohl ich mir wie ein Eindringling vorkam, schlich ich mich in das Schlafzimmer des Meisters. Es war kleiner als das Celias. Die Einrichtung bestand lediglich aus einem Bett, einem Nachttisch und einem Schrank in der Ecke. Die Wandleuchter waren nicht an, die Fenster mit dunklem Tuch verhangen, das das spärliche Licht dieses grauen Tages davon abhielt, ins Zimmer zu fallen.
Celia hatte gesagt, dass es Blaureiher schlecht ging, und als ich ihn sah, musste ich zugeben, dass sie nicht übertrieben hatte. Er lag zusammengekrümmt im Bett. Offenbar hatte er Fieber. Die meisten seiner Haare waren ausgefallen, nur am Hinterkopf waren ein paar dünne, lange Strähnen übrig geblieben. Sein Blick wirkte glasig und unkonzentriert, die Farbe seines Gesichts erinnerte eher an eine Leiche als an den rüstigen, wenn auch gealterten Mann, mit dem ich erst vor ein paar Tagen gesprochen hatte.
Ich wünschte, ich hätte Hosen an.
Meine Anwesenheit rief keinerlei Reaktion bei ihm hervor. Als er schließlich etwas sagte, klang seine Stimme – passend zum Verfall seines Körpers – brüchig und hohl. »Celia … bist du das, Celia? Schätzchen, bitte hör auf mich, es ist noch Zeit …«
»Nein, Meister. Ich bin’s.« Ich setzte mich auf einen kleinen Hocker neben dem Bett. Aus der Nähe sah er in keiner Weise besser aus.
Er blinzelte und richtete den Blick auf mich. »Oh. Tut mir leid, ich … ich konnte in der letzten Zeit keinen Besuch empfangen. Mir geht es nicht gut.«
»Natürlich, Meister, natürlich. Kann ich etwas für dich tun?«, fragte ich, wobei ich hoffte, dass er nicht nach der Karaffe mit der grünen Flüssigkeit verlangen würde, die auf dem Nachttisch stand. Jeder Mensch hat das Recht zu entscheiden, wie er dem Tod begegnen will, doch es widerstrebte mir, aktiv am Abbau des fruchtbaren, phantasievollen Geistes des Meisters beteiligt zu sein.
Er schüttelte den Kopf, eigentlich war es mehr ein Zittern. »Nein, danke. Es ist zu spät für alles.«
Ich saß fünf oder zehn Minuten an seinem Bett, während er in einen unruhigen Schlaf fiel. Gerade als ich aufstehen wollte, um in seinem Schrank nach Kleidung zu suchen, fiel mir etwas ein. Ich holte das Horn, das Zeisig gestohlen hatte, aus meinem Ranzen und legte es auf den Nachttisch.
Blaureihers Hand schoss unter der Bettdecke hervor und packte mich so fest beim Handgelenk, dass ich fast aufgeschrien hätte. »Du hattest recht, Roan. Tut mir leid, dass ich nicht auf dich gehört habe.«
In seinem Delirium hielt er mich offenbar für seinen alten Lehrer. »Ich bin’s, Meister. Roan der Grimmige ist seit einem halben Jahrhundert tot.«
»Ich habe versucht, das Übel fernzuhalten, Roan, habe versucht, es abzuwehren. Aber es ist eingedrungen … das gelingt ihm immer.«
»Deine Abwehrzauber wirken nach wie vor, Meister«, sagte ich. »Die Einwohner der Unterstadt wissen das und sind dir dafür dankbar.«
»Es gibt nichts fernzuhalten, Roan. Das wusstest du. Aber ich konnte es nicht begreifen. Die Fäulnis ist bereits da, sie kommt nicht von außen.«
Ich versuchte, etwas Beschwichtigendes zu sagen, aber mir fiel nichts ein.
»Sie ist immer da. Das habe ich jetzt begriffen. Wie soll man eine Mauer errichten, um etwas fernzuhalten, das immer da gewesen ist? Das geht nicht, das ist einfach nicht möglich!« Seine Stimme wurde immer lauter. »Man kann einen Zaun errichten, einen Graben ausheben, eine Barrikade bauen und das Gelände verminen – alles vergebens! Es ist bereits da! Im Grunde ist alles nur Blut und Scheiße!« Diesen letzten Satz spie er förmlich aus. Ich zuckte unwillkürlich zusammen. Ich hatte noch nie
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