Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition)
zu den Verlorenen Kindern, wie man uns beschönigend nannte, da sich unsere Verluste in den ersten schrecklichen Monaten auf drei Viertel oder sogar vier Fünftel der Truppe beliefen. Fast alle der Jungs, mit denen ich loszog, sollten keine zwölf Wochen mehr am Leben bleiben. Die meisten starben schreiend, nachdem sie einen Armbrustbolzen oder einen Granatsplitter in den Bauch bekommen hatten.
Aber das alles lag noch in der Zukunft. In jenem Sommer stolzierte ich in meiner neuen Uniform durch die Unterstadt. Alte Männer schüttelten mir die Hand und wollten mich auf ein Bier einladen, hübsche Mädchen erröteten, wenn ich auf der Straße an ihnen vorüberging.
Ich war noch nie ein geselliger Mensch und bezweifelte, dass mir an den Docks irgendjemand eine Träne nachweinen würde. Deshalb gab es bei mir keine großen Abschiedszeremonien. Doch zwei Tage bevor ich zur Front aufbrechen musste, suchte ich die zwei Menschen auf, von denen ich annahm, dass sie als Einzige meinen Tod betrauern würden.
Als ich ins Wohnzimmer trat, stand Blaureiher mit dem Rücken zu mir am offenen Fenster, durch das eine frische Brise hereinkam. Obwohl ich wusste, dass der Wächter ihn von meiner Ankunft in Kenntnis gesetzt hatte, zögerte ich, ihn zu begrüßen. »Meister«, sagte ich.
Er lächelte mich strahlend an, doch sein Blick war traurig. »Du siehst aus wie ein Soldat.«
»Wie einer von den unseren, hoffe ich. Sonst würde ich auf dem Transportschiff vielleicht ein Messer zwischen die Rippen bekommen.«
Er nickte mit großem Ernst. Blaureiher befasste sich nicht mit Politik, sondern interessierte sich wie viele seines Standes ausschließlich für esoterische Dinge. Obwohl man ihn zum Zauberer Ersten Ranges ernannt hatte, ging er selten an den Hof und hatte wenig Einfluss. Doch er war ein Mann von großer Weisheit, und ich glaube, er begriff damals schon, was uns anderen noch nicht klar war – nämlich dass das, was uns bevorstand, nicht in ein paar Monaten vorüber sein würde, sondern dass man die einmal losgelassene Bestie namens Krieg nur schwer würde wieder in den Käfig sperren können.
Natürlich sagte er von alldem nichts zu mir – ich würde ja so oder so in den Krieg ziehen. Doch ich sah den Kummer in seinem Gesicht. »Celia wird ab Herbst auf die Akademie gehen. Ich fürchte, in diesem Winter wird es im Magierhorst sehr kalt sein – ohne sie und ohne deine Besuche, auch wenn die in der letzten Zeit selten geworden sind.«
»Du hast also beschlossen, sie auf die Akademie zu schicken?«
»Die Einladung war nicht als Bitte formuliert. Die Krone trachtet danach, die Magier des Landes zu organisieren und unter ihren Einfluss zu bringen. Wir sollen nicht mehr in einsamen Türmen auf windumtosten Mooren vor uns hin werkeln. Ich bin zwar nicht sonderlich entzückt davon, aber … was kann ein alter Mann schon tun, um sich gegen die Zukunft zu sperren? Das Ganze ist schließlich zum Nutzen der Allgemeinheit. Behauptet man jedenfalls. Heutzutage scheint es sehr viele Dinge zu geben, die diesem nebulösen Ideal geopfert werden müssen.« Möglicherweise wurde ihm in diesem Moment klar, dass sich seine abfällige Bemerkung auch auf meine Lage beziehen ließ, denn er fuhr in fröhlicherem Ton fort: »Außerdem freut sie sich sehr darauf. Es wird ihr guttun, mehr Zeit mit Menschen in ihrem Alter zu verbringen – sie ist viel zu lange allein gewesen und hat sich nur ihren Studien gewidmet. Manchmal befürchte ich …« Er schüttelte den Kopf, wie um alle düsteren Gedanken zu verscheuchen. »Ich hatte nie vorgehabt, Vater zu spielen.«
»Du hast dich aber recht gut in die Rolle gefunden.«
»Leicht war das nicht, weißt du. Vielleicht habe ich sie zu sehr wie eine Erwachsene behandelt. Als mir klar wurde, dass sie Talent für die magische Kunst hat … Manchmal frage ich mich, ob ich sie nicht zu früh zu meinem Lehrling gemacht habe. Ich selbst war zwölf, als Roan mich aufnahm, also doppelt so alt wie sie und außerdem ein Junge. Es gibt Dinge, die sie gelernt hat, Dinge, denen sie ausgesetzt war …« Er zuckte die Achseln. »Ich kannte leider keine andere Methode, um sie aufzuziehen.«
Nie zuvor hatte Blaureiher mir gegenüber so offen von seinen Sorgen gesprochen. Das war beunruhigend – dabei gab es doch schon genug, was mir Kopfschmerzen bereitete. »Sie hat sich gut entwickelt, Meister. Aus ihr ist ein prächtiges Mädchen geworden.«
»Natürlich, natürlich«, erwiderte er, übertrieben eifrig nickend.
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