Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition)
erwiderte ich, obwohl meine Bemühungen nicht viel nutzen würden, falls das Rote Fieber wieder in der Stadt grassierte.
Ihre Augen, normalerweise so hell wie eine wolkenloser Himmel, verschleierten sich. Unsicherheit war etwas, das Marieke selten zeigte und das ihr großes Unbehagen bereitete. »Im Moment sind Sie der Einzige, der davon weiß. Ich traue dem Schwarzen Haus nicht, und ich will nicht, dass eine Panik ausbricht. Aber wenn es einen weiteren Fall gibt …«
»Verstehe«, sagte ich, um gleich darauf die naheliegende Frage zu stellen: »Warum haben Sie es mir verraten?«
»Weil ich bei unserer ersten Begegnung intuitiv erkannt habe, wer Sie sind und wie Ihr weiterer Weg aussieht. Weil ich etwas erkannt habe, das mir geraten hat, Sie in diese Sache einzuweihen.«
Das würde auch den Anfall erklären, den Sie gehabt hatte. Und das würde erklären, warum sich jemand, der von Grund auf so unfreundlich war wie sie, überhaupt dazu herabließ, mit mir zu reden.
»Wollen Sie nicht wissen, was ich gesehen habe?«, fragte sie. »Jeder will doch wissen, was ihm bevorsteht.«
»Das ist dumm. Man braucht keinen Propheten, der einem die Zukunft voraussagt. Werfen Sie einen Blick auf gestern, dann einen auf heute. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird der morgige Tag nicht anders aussehen, und der Tag danach auch nicht.«
Es war Zeit aufzubrechen. Zeisig wartete draußen in der Kälte, und ich hatte einen langen Weg vor mir, bis ich mich endlich ausruhen konnte. Ich hob das Tuch und sah mir Avraham an. Er würde der Letzte sein, nahm ich mir vor.
Marieke riss mich aus meinen Gedanken. »Haben Sie es damals überstanden?«
»Nein, ich bin dahingerafft worden. Merken Sie das nicht?«
Sie errötete und fügte eilig hinzu: »Ich meinte, haben Sie …«
»Ich weiß, was Sie meinten«, erwiderte ich. »Ja, hab ich überstanden.«
»Wie war es?«
Das wurde ich manchmal gefragt, von Leuten, die wussten, dass ich während des Höhepunkts der Epidemie in der Unterstadt gewesen war. »Erzähl mir von der Seuche«, pflegten sie zu sagen, als ginge es um irgendeinen Nachbarschaftsklatsch oder das Resultat eines Boxkampfs. Was sollte man ihnen erzählen? Was wollten sie hören?
Man kann ihnen von den ersten Tagen erzählen, als es nicht schlimmer aussah als in jedem Sommer – ein oder zwei Tote pro Wohnblock, Alte und sehr Junge. Man kann ihnen auch erzählen, wie sich die Markierungen auf den Häusern auszubreiten begannen und immer mehr zunahmen, bis es kaum noch eine Hütte oder ein Wohnhaus gab, auf dessen Eingangstür kein »X« gekritzelt war. Wie die Männer von der Regierung kamen, um die Häuser niederzubrennen, und dass sie sich manchmal nicht vergewisserten, ob alle im Haus tot waren.
Man kann ihnen von dem Abend erzählen, nachdem Mama und Papa mit dem Leichenkarren abtransportiert worden waren, von dem Abend, an dem die Nachbarn unsere Wohnung plünderten, ein wenig betreten, aber ohne sich wirklich zu schämen, und sich mit den paar Silberlingen davonmachten, die mein Vater gespart hatte, und wie sie mir ins Gesicht schlugen, als ich versuchte, sie daran zu hindern. Mit ebendiesen Nachbarn hatten wir am Mittwinterfest Hymnen gesungen, von ebendiesen Nachbarn hatten wir uns manchmal Zucker geborgt. Und wer konnte ihnen einen Vorwurf machen? Denn nichts, was jemand tat, spielte mehr eine Rolle.
Man kann ihnen von dem Kordon um die Unterstadt erzählen, von den feisten Wächtern, die gern und reichlich Bestechungsgelder annahmen, aber kein einziges armes Schwein rausließen, weil wir ihrer Ansicht nach nur Abschaum waren, den man von anständigen Leuten fernhalten musste. Dass ich noch Jahre später nach diesen Typen Ausschau gehalten habe, um es ihnen heimzuzahlen – dass ich es heute noch tue.
Man kann ihnen von Hennis Gesichtsausdruck erzählen, der weder wütend noch traurig, sondern nur resigniert war, als ich auch am dritten Tag ohne Essen nach Hause kam – meine arme kleine Schwester legte mir die Hand auf die Schulter und sagte, es würde schon alles in Ordnung kommen, morgen würde ich mehr Glück haben. Ihre Stimme war so lieblich, ihr Gesicht so mager, dass es einem das Herz brach, einem einfach das verdammte Herz brach.
Ich glaube, ich hätte Marieke eine ganze Menge erzählen können.
»War keine große Sache«, erwiderte ich jedoch, und ausnahmsweise war Marieke so vernünftig, den Mund zu halten.
Ich musste aufbrechen, bevor ich die Beherrschung verlor, und nickte Marieke zum Abschied
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