Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition)
ihren Schreibtisch gebeugt da und blätterte mit einer Aggressivität, die selbst einen Syndikatsschläger in Schrecken versetzt hätte, in einem zerfledderten, ledergebundenen Buch herum. Ich knallte die Tür hinter mir zu, worauf sie sich ruckartig umdrehte, offensichtlich in der Absicht, denjenigen, der es wagte, sie bei ihrer Arbeit zu stören, zusammenzustauchen. Als sie mich erkannte, atmete sie langsam aus und wurde auf diese Weise einen kleinen Teil ihres anscheinend unerschöpflichen Grolls los.
»Sie sind’s«, stellte sie fest – in einem Ton, der deutlich zu verstehen gab, dass sie wenig Wert darauf legte, mich wiederzusehen. »Guiscard war heute auch schon da. Ich dachte, Sie würden ihn begleiten.«
»Wir haben uns zerstritten. Ich brauche meine Freiheit, und er ist der Typ Mädel, der auf eine Einmannbeziehung fixiert ist.«
»Halten Sie das für komisch?«
»Geben Sie mir ein paar Minuten Zeit, dann versuchen wir’s noch mal.« Auf dem Tisch in der Mitte des Raums lag ein mit einem Tuch bedeckter Körper, der ungefähr die Größe eines Kindes hatte – Avraham, der bald unter die Erde kommen würde. Für ihn würde es weder ein feierliches Begräbnis noch eine öffentliche Bekundung von Trauer geben, und angesichts des Wetters bezweifelte ich, dass der Hohepriester den langen Weg von seiner Kirche zu dem Stück Land am Meer, wo die Eiländer ihre Toten begruben, auf sich nehmen würde. Im Herbst hatten die Einwohner der Unterstadt das ganze Pathos, den Moment gemeinsamer Trauer inmitten bunten Laubs, genossen, doch jetzt, da die Temperaturen gesunken waren, schien niemand erpicht darauf, sein Haus zu verlassen, bloß um der Familie eines kleinen schwarzen Jungen sein Mitgefühl zu bezeigen. Und angesichts der Anzahl der Kinder, die aus der Unterstadt verschwanden, hatte die ganze Sache sowieso den Reiz des Neuen verloren.
»Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie dieser Leiche auch nicht mehr entnehmen konnten als der vorhergehenden?«
Sie nickte. »Ich habe alles versucht, alle erdenklichen Rituale durchgeführt, über jedem kleinsten Beweisstück meditiert, aber …«
»Nichts«, beendete ich den Satz. Ausnahmsweise schien es ihr nichts auszumachen, unterbrochen zu werden.
»Haben Sie irgendetwas Konkretes herausgefunden?«
»Nein.«
»Wenn Sie so weiterreden, komme ich überhaupt nicht zu Wort.«
»Tja.« Bisher war unser Gespräch nahezu freundlich verlaufen – fast hätte ich mir sogar eingebildet, die Seherin habe ein Auge auf mich geworfen.
»Weiß das Amt für magische Angelegenheiten von dem Talisman, der an ihrer Schulter angebracht ist?«, fragte sie.
»Natürlich. Jedes Mal, wenn ich etwas Illegales mache, teile ich es der Regierung mit. Ist doch Ehrensache.«
Auf Mariekes mürrischem Gesicht zeichnete sich ein Lächeln ab, dem sie jedoch den Hals brach, bevor es aufblühen konnte. »Wer hat den Talisman angebracht?«
»Weiß ich nicht mehr. Muss passiert sein, als ich gerade mal wieder high war.«
Sie stemmte die Hände auf den Schreibtisch hinter sich und bog ihren Oberkörper zurück, was in Anbetracht ihrer fast pathologischen Gehemmtheit eine erstaunlich ungezwungene Darbietung war, die sich bei einem gewöhnlichen Menschen in etwa damit vergleichen ließe, dass er seine Hosen runterlässt, um auf den Fußboden zu scheißen. »Na schön. Dann verraten Sie es mir eben nicht.«
Das hatte ich sowieso nicht vorgehabt. »Wenn ich unter dem Tuch nachsehen würde, würde ich dann rote Pusteln an dem Jungen entdecken?«, fragte ich.
Sie blickte mit verschwörerischer Miene umher, was, da wir uns in einem geschlossenen Raum befanden, unnötig, aber trotzdem verständlich war. »Ja, das würden Sie«, sagte sie.
Das hatte ich zwar erwartet, aber dieser Umstand machte es in keiner Weise leichter, es zu verdauen. Der Herzog hatte ein weiteres Kind abgemurkst, es vor meiner Nase entführt, es in den Katakomben unter seinem Haus versteckt, ihm das Leben geraubt und es in den Fluss geworfen. Und als ob diese Gräueltat noch nicht ausreichte, hatte er den Jungen auch noch mit der Seuche infiziert und auf diese Weise die Abwehrzauber geschwächt, die die Stadt vor der Rückkehr der Seuche schützten – und all das, weil er den Gedanken nicht ertragen konnte, einer ehrlichen Arbeit nachzugehen oder auf ein paar exotische Ausschweifungen verzichten zu müssen.
»Haben Sie eine Ahnung, woher der Ausschlag kommt?«, fuhr sie fort.
»Ich bin auf der Suche nach der Ursache«,
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