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Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition)

Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition)

Titel: Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Polansky
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weiter wir in das Gebäude vordrangen, desto stärker stank es nach Moder und verwesendem menschlichem Fleisch. Guiscard schritt an etwa einem Dutzend Türen vorbei, bis er bei einer haltmachte und sie öffnete.
    Der Raum wies jene obsessive Ordentlichkeit auf, die ebenso wie chaotisches Durcheinander von einem gestörten Geist zeugt – Reihe um Reihe beschrifteter Kästen auf sorgfältig abgestaubten Regalbrettern, der Fußboden so sauber, dass man darauf essen konnte, falls man aus irgendeinem Grund die Neigung verspürte, sein Dinner auf der Erde einzunehmen. Abgesehen von dieser Makellosigkeit vermittelte nichts in dem Zimmer den Eindruck, dass hier jemand arbeitete: Der Schreibtisch an der hinteren Wand war völlig leer, selbst die üblichen Utensilien wie Federhalter und Tinte, Papier und Lehrbücher fehlten. Man hätte das Ganze durchaus für einen Lagerraum halten können, bloß dass in der Mitte eine Leiche auf einem Tisch lag und eine Frau danebenstand.
    Als schön konnte man sie nicht bezeichnen. Dafür hatte sie zu wenig Fleisch auf den Rippen und war insgesamt zu knochig. Ohne den mürrischen Gesichtsausdruck hätte sie jedoch als attraktiv durchgehen können. Ihrer Größe und Hautfarbe nach zu urteilen – sie war so hellhäutig, dass die blauen Adern am Hals durchschimmerten –, war sie Vaalanerin. Und nicht in der Stadt geboren, wenn ich mich nicht irrte. Ich überlegte, welche Ereignisse sie wohl veranlasst haben mochten, den kalten Norden und die steinigen Inseln zu verlassen, auf denen ihr Volk wohnte. Im Einzelnen betrachtet gab es viel Anziehendes an ihr – eine anmutige Haltung, lange feine Gliedmaßen, rotblondes Haar, das ihr über die Schultern fiel – ein Übermaß an körperlichen Vorzügen also, die jedoch alle in dem Eindruck untergingen, den ihre klapperdürre Magerkeit hervorrief. Als sich die Tür öffnete, blickte sie auf und sah uns forschend an. Die Farbe ihrer Augen hätte man herkömmlicherweise als blau bezeichnet. In Wirklichkeit waren sie jedoch nahezu farblos. Anschließend wandte sie sich wieder der Leiche zu, die vor ihr lag.
    Es fiel mir nicht allzu schwer nachzuvollziehen, wie sie zu ihrem Spitznamen gekommen war.
    Guiscard stieß mich grinsend mit dem Ellbogen an, wie um mich an das zu erinnern, was er mir vorhin erzählt hatte. Doch da ich ihn nicht mochte, ging ich gar nicht erst darauf ein. »Seherin Uys?«, sagte er schließlich.
    Sie gab ein Grunzen von sich und fuhr fort, sich Notizen zu machen. Wir warteten ein Weilchen, um festzustellen, ob sie imstande war, den gesellschaftlichen Umgangsformen Genüge zu tun, die entwickelt worden sind, um die unzuverlässige Natur der menschlichen Rasse zu übertünchen. Als schließlich klar wurde, dass ihr diese Fähigkeit abging, räusperte sich Guiscard. Im Gegensatz zu der Seherin beeindruckte mich die Vornehmheit, mit der er seinen Hals von einem Schleimklumpen befreite, ungemein. Ich fragte mich, wie viele Jahre Training er wohl gebraucht hatte, um diesen Trick zu beherrschen.
    »Das ist …«
    »Ich erkenne Ihren Gast wieder.« Sie strich ihren Federhalter am Papier ab, als wollte sie damit Rache für irgendeine in der Vergangenheit liegende Grausamkeit nehmen. Nachdem sie uns zu verstehen gegeben hatte, dass wir viel unwichtiger waren als das, womit sie sich gerade befasste, geruhte sie, uns ihre Aufmerksamkeit zu schenken. »Er hat uns vor ein paar Jahren mit seiner Anwesenheit beehrt. Da hab ich ihn gesehen.«
    Das überraschte mich. Ich kann mir Gesichter gut merken, sehr gut sogar. Das war schon bei meinem früheren Job erforderlich, und bei meinem jetzigen ist es nicht anders. Natürlich waren die letzten sechs Monate bei der Spezialabteilung … na ja … hektisch gewesen. Da waren mir noch weit wichtigere Dinge entgangen.
    »Es ist also unnötig, ihn mir vorzustellen. Aber vielleicht könnten Sie mich mal darüber aufklären, was zum Teufel er in der Box zu suchen hat, da er doch – nach der Häufigkeit zu urteilen, mit der Angehörige Ihrer Organisation ihn verfluchen – beim Schwarzen Haus in Ungnade gefallen ist.«
    Ich stieß ein leises Lachen aus, teil weil es lustig war, teils weil ich sie verunsichern wollte. Und tatsächlich schien es sie zu schockieren, dass sie es ausnahmsweise einmal nicht geschafft hatte, ihr Gegenüber zu brüskieren.
    Guiscard strich sich über den Flaum unter seiner Nase und überlegte, was er antworten sollte. Er wusste selbst nicht genau, warum ich hier war und wer

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