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Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition)

Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition)

Titel: Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Polansky
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Ich folgte Guiscard ins Gebäude.
    Seher sind eine seltsame Spezies, so seltsam, dass sie ihre eigene Zentrale haben, die außerhalb des Schwarzen Hauses liegt, was nicht allein darauf zurückzuführen ist, dass das Untersuchen und Sezieren von Leichen zu ihren Aufgaben gehört. Sie werden bei Fällen wie Mord, Körperverletzung und Vergewaltigung hinzugezogen. Bisweilen gelingt es ihnen, bildliche oder sinnliche Eindrücke der Opfer aufzufangen, die zwar meist fragmentarisch, gelegentlich aber doch hilfreich sind. Sie sind keine Magier, zumindest nicht meiner Auffassung von Magie zufolge – ihnen fehlt die Fähigkeit, die physische Welt zu beeinflussen. Stattdessen verfügen sie über eine Art passiver Empfänglichkeit, einen Extrasinn, der uns anderen abgeht.
    Glücklicherweise, möchte ich hinzufügen. Die Welt ist schlecht, und wir sollten dankbar sein, dass unsere Erkenntnis durch Scheuklappen eingeschränkt wird. Es ist besser, auf der Oberfläche zu treiben, als in die stinkigen Gewässer darunter abzutauchen. Die »Gabe« dieser Seher ist so beschaffen, dass sie ein normales Leben unmöglich macht, da diese Menschen ständig mit den Unterströmungen des Lebens konfrontiert werden. Wer mit einer solchen Gabe geboren wird, gerät unweigerlich in den Dienst der Regierung, einfach deshalb, weil er oder sie für jede andere Art von Arbeit ungeeignet ist. Stellen Sie sich vor, jemand versucht, einem Mann Schuhe zu verkaufen, und erkennt intuitiv, dass der Typ seine Kinder verprügelt oder die Leiche seiner Frau in einen Sack eingenäht hat. Eine unerfreuliche Existenz. Kein Wunder, dass die meisten Investigatoren Säufer oder mehr oder weniger durchgeknallt sind. Ein paar von ihnen waren Kunden bei mir – hauptsächlich Abnehmer von Ouroboros-Wurzel, obwohl es, sobald sie auf harte Sachen umsteigen, nicht lange dauert, bis die Polizei bei ihnen vorspricht. Um das zu vermeiden, stürzen sie sich manchmal in den Fluss oder ziehen sich eine ganze Flasche Koboldatem auf einmal rein. Ein Schicksal, das unter Sehern weitverbreitet ist – die wenigsten von ihnen sterben eines natürlichen Todes.
    Jedenfalls sind sie bei einer Ermittlung recht nützlich, vorausgesetzt, man verlässt sich nicht allzu sehr auf sie. Ihr zweites Gesicht ist eine unsichere Angelegenheit, sodass auf jeden anständigen Anhaltspunkt im Schnitt eine Spur, die in die Sackgasse führt, und zwei falsche Fährten kommen. Einmal habe ich einen ganzen Monat damit verbracht, im Eiländerviertel der Unterstadt rumzuschnüffeln, nur um dann festzustellen, dass der Mann, mit dem ich zusammenarbeitete, noch nie einen Mirader gesehen und die zimtfarbene Haut des Mörders in seiner Vision fälschlich für die dunkelbraune Hautfarbe eines Seefahrers gehalten hatte. Danach suchte ich die Box nur noch selten auf, wo meine Anwesenheit ohnehin nicht sonderlich gefragt war, nachdem ich den oben erwähnten Seher aus einem Fenster im Parterre geworfen hatte.
    Ich trat in ein Vorzimmer, in dem ein alter Eiländer saß. Er erhob sich von der Holzbank, auf der er geschlummert hatte, und machte sich daran, die Tür aufzuschließen, die ins Innere führte. Da sie eine Menge Schlösser hatte und der Türhüter ziemlich tattrig war, blieb uns Zeit für ein Gespräch.
    »Mit wem werden wir es zu tun haben?«, fragte ich Guiscard.
    Dass er etwas wusste, das mir unbekannt war, munterte Guiscard ein wenig auf. »Crispin hat darum gebeten, dass Marieke die Sache übernimmt, weil sie die Beste ist. Erinnern Sie sich noch an sie? Sie muss damals, als man Sie rausschmiss, gerade angefangen haben.«
    »Kenn ich nicht.«
    »Man nennt sie die Eisschnepfe.«
    Ich konnte mir gut vorstellen, wie diese Bezeichnung – so frauenfeindlich und einfallslos, wie sie war – unter den Witzbolden im Schwarzen Haus die Runde machte. Dass ich nicht lachte, schien Guiscard so zu kränken, dass er das Thema wechselte.
    »Wie ist es eigentlich dazu gekommen?«
    »Wozu?«
    »Zu Ihrer Entlassung.«
    Der Eiländer hatte das letzte Schloss bewältigt und mühte sich, die schwere Eisentür aufzuziehen. »Ich hab den Prinzgemahl vergiftet.«
    »Der Prinzgemahl ist nicht tot.«
    »Tatsächlich? Wen zum Teufel habe ich dann bloß ermordet?«
    Er brauchte eine Weile, um das zu verdauen. »Sie sollten sich nicht so leichtfertig über die königliche Familie äußern«, sagte er tadelnd. Dann setzte er sich in Bewegung und ging forschen Schrittes den Gang hinunter, der aus feuchten Steinmauern bestand. Je

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