Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition)
Ich dachte bereits über die nächsten Schritte nach, als sie mich zurückrief.
»Sie, warten Sie mal«, befahl sie. Da ziemlich klar war, auf wen von uns sich das bezog, bedeutete ich Guiscard, dass er schon mal vorgehen sollte.
Marieke sah mich lange durchdringend an, als versuchte sie, durch meinen Brustkorb hindurch meine Seele zu erblicken. Was auch immer sie dort erspähte, es schien sie zufriedenzustellen. »Wissen Sie, was das ist?«, fragte sie, indem sie auf den Innenschenkel der Leiche zeigte, wo sich ein kleiner, aus roten Pusteln bestehender Fleck befand.
Ich versuchte, etwas zu sagen, brachte jedoch kein Wort heraus.
»Finden Sie heraus, was zum Teufel hier geschieht«, sagte sie mit angsterfüllter Stimme. »Und zwar schnell.«
Ich drehte mich um und wankte nach draußen.
»Worum ging’s denn?«, fragte Guiscard, doch ich stürmte wortlos an ihm vorbei.
Zeisig, der neben ihm stand, setzte gerade an, etwas zu sagen. Ich legte dem Jungen die Hand auf die Schulter und schob ihn weiter. Er war klug genug, den Wink zu verstehen und den Mund zu halten.
Was auch gut war, denn in diesem Moment war ich nicht in der Lage, ein Gespräch zu führen. Der Gedanke, der mir im Kopf herumschwirrte, schien mir so ungeheuerlich, dass ich nur noch imstande war, vor mich hin zu starren. Er hatte mich, angeschlagen, wie ich durch die Ereignisse des Tages war, vollends aus dem Gleichgewicht gebracht.
Diesen Ausschlag nämlich hatte ich früher schon einmal gesehen. Bei meinem Vater, eines Abends, als er aus der Fabrik nach Hause kam, und ein paar Tage später dann bei meiner Mutter. Ich hatte gesehen, wie er sich auf ihrem Körper ausbreitete, unzählige Pusteln entstanden, die ihre Augen verkrusteten und ihre Zunge anschwellen ließen, bis sie vor Durst verrückt wurden. Und dann hatte ich gesehen, wie dieser Ausschlag so viele Menschen unter die Erde brachte, dass nach einer Weile niemand mehr da war, um die Toten zu begraben. Ich hatte gesehen, wie diese kleinen roten Pusteln der Zivilisation ein Ende setzten. Wie sie die Welt zerstörten.
Nun war die Seuche nach Rigus zurückgekehrt. Auf dem Heimweg murmelte ich jedes Gebet an den Erstgeborenen, an das ich mich noch erinnern konnte, vor mich hin, obwohl diese Gebete schon beim letzten Mal einen Dreck genutzt hatten.
21
Unablässig kreisten meine Gedanken um das, was ich von Marieke erfahren hatte. Deshalb dauerte es auch eine Weile, bis ich begriff, warum Zeisig ständig an seiner lächerlichen Wolljacke herumfummelte. Als es mir schließlich wie Schuppen von den Augen fiel, waren wir fast schon wieder in der Unterstadt. Ich verlangsamte meinen Schritt und blieb stehen. Der Junge folgte meinem Beispiel.
»Wann hast du es genommen?«, fragte ich.
Er spielte mit dem Gedanken, mich anzulügen, wusste aber, dass ihm das nichts nützen würde. »Als du dich verabschiedet hast.«
»Zeig mal her.«
Er zog das Horn unter der Jacke hervor und reichte es mir mit einem Achselzucken.
»Warum hast du es gestohlen?«
»Weil ich es haben wollte«, erwiderte er trotzig. Das war nicht das erste Mal, dass er beim Klauen erwischt worden war, und auch nicht das erste Mal, dass er dafür Prügel beziehen würde. Es gehörte zum Spiel dazu, und er würde es bis zum Ende durchziehen.
Deshalb beschloss ich, einen anderen Weg einzuschlagen. »Das ist vermutlich ein triftiger Grund«, sagte ich.
»Er hat genug von dem Zeug. Er braucht das Ding nicht.«
»Nein, wahrscheinlich nicht.«
»Verprügelst du mich jetzt?«
»Die Mühe bist du nicht wert. Ich habe genug andere Sorgen. Da kann ich mich nicht auch noch damit befassen, einem streunenden Köter Anstand beizubringen. Außerdem ist es für dich sowieso zu spät – du wirst nie was anderes sein als das, was du bist.«
Sein Gesicht verzog sich zu einer wütenden Grimasse. So giftig, wie er mich ansah, dachte ich schon, er würde auf mich losgehen. Doch er spuckte mir bloß auf den Schuh und rannte davon.
Ich wartete, bis er verschwunden war. Dann inspizierte ich seine Beute. Ein cleverer Coup – das Ding war so klein, dass man es bequem unter der Kleidung verstecken konnte, und obwohl nur ein Magier in der Lage sein würde, seinen Zauber zu entfachen, war es hübsch gearbeitet. In der richtigen Pfandleihe mochte man einen Ockerling dafür bekommen. Bei meinem ersten Besuch im Magierhorst hatte ich eine viel dümmere Wahl getroffen. Damals hatte ich nämlich eine Quarzkugel von der Größe meines Kopfes geklaut, die so
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